Schillers weitsichtige Ballade zur Umwelt- und Naturschutzdiskussion

  • Vor den brennenden Umweltfragen in unserer Zeit sowie Gesellschaft bin ich auf Schillers Ballade "Das verschleierte Bild zu Sais" gestoßen und war überrascht über die Weitsicht, die man daraus entnehmen kann (ich habe unter das Gedicht noch einige Informationen und Anregungen gestellt, um es im Kontext besser zu verstehen, denn in der Aufklärungszeit galt das Motiv der verschleierten Isis bzw. Mutter Natura als Symbol für die Geheimnisse der Natur, welche der Mensch bzw. die Naturwissenschaften zu enthüllen/erforschen versuchten):


    Das verschleierte Bild zu Sais

    Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst

    Nach Sais in Ägypten trieb, der Priester

    Geheime Weisheit zu erlernen, hatte

    Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt,

    Stets riß ihn seine Forschbegierde weiter,

    Und kaum besänftigte der Hierophant

    Den ungeduldig Strebenden. »Was hab ich,

    Wenn ich nicht alles habe?« sprach der Jüngling.

    »Gibts etwa hier ein Weniger und Mehr?

    Ist deine Wahrheit wie der Sinne Glück

    Nur eine Summe, die man größer, kleiner

    Besitzen kann und immer doch besitzt?

    Ist sie nicht eine einzge, ungeteilte?

    Nimm einen Ton aus einer Harmonie,

    Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen,

    Und alles, was dir bleibt, ist nichts, solang

    Das schöne All der Töne fehlt und Farben.«


    Indem sie einst so sprachen, standen sie

    In einer einsamen Rotonde still,

    Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße

    Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert

    Blickt er den Führer an und spricht: »Was ists,

    Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?«

    »Die Wahrheit«, ist die Antwort. – »Wie?« ruft jener,

    »Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese

    Gerade ist es, die man mir verhüllt?«


    »Das mache mit der Gottheit aus«, versetzt

    Der Hierophant. »Kein Sterblicher, sagt sie,

    Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.

    Und wer mit ungeweihter, schuldger Hand

    Den heiligen, verbotnen früher hebt,

    Der, spricht die Gottheit –« –

    »Nun?« – »Der sieht die Wahrheit.«



    »Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst,

    Du hättest also niemals ihn gehoben?«

    »Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu

    Versucht.« – »Das fass ich nicht. Wenn von der Wahrheit

    Nur diese dünne Scheidewand mich trennte –«

    »Und ein Gesetz«, fällt ihm sein Führer ein.

    »Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,

    Ist dieser dünne Flor – für deine Hand

    Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen.«


    Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause.

    Ihm raubt des Wissens brennende Begier

    Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager

    Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel

    Führt unfreiwillig ihn der scheue Tritt.

    Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen,

    Und mitten in das Innre der Rotonde

    Trägt ein beherzter Sprung den Wagenden.


    Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt

    Den Einsamen die lebenlose Stille,

    Die nur der Tritte hohler Widerhall

    In den geheimen Grüften unterbricht.

    Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft

    Der Mond den bleichen, silberblauen Schein,

    Und furchtbar wie ein gegenwärtger Gott

    Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse

    In ihrem langen Schleier die Gestalt.


    Er tritt hinan mit ungewissem Schritt,

    Schon will die freche Hand das Heilige berühren,

    Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein

    Und stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme.

    Unglücklicher, was willst du tun? So ruft

    In seinem Innern eine treue Stimme.

    Versuchen den Allheiligen willst du?


    Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,

    Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.

    Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:

    Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?

    »Sei hinter ihm, was will! Ich heb ihn auf.«

    (Er rufts mit lauter Stimm.) »Ich will sie schauen.« Schauen!

    Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.


    Er sprichts und hat den Schleier aufgedeckt.

    Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier?

    Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich,

    So fanden ihn am andern Tag die Priester

    Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.

    Was er allda gesehen und erfahren,

    Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig

    War seines Lebens Heiterkeit dahin,

    Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.

    »Weh dem«, dies war sein warnungsvolles Wort,

    Wenn ungestüme Frager in ihn drangen,

    »Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld,

    Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.«



    (http://www.zeno.org/Literatur/…erschleierte+Bild+zu+Sais)



    Zur Anregung und Information vielleicht noch:

    Das verschleierte Bild zu Saïs ist ein klassischer Topos seit der Antike und frühen Aufklärung. Dabei handelt es sich um die verhüllte Götterstatue der Isis bzw. der Göttin von Sais, die schon in der Antike als die göttliche Verkörperung der Natur angesehen wurde.

    [...]

    Das Motiv der verschleierten Isis als die Unfassbarkeit der Natur und ihre Entschleierung durch die Wissenschaft findet sich in zahlreichen naturkundlichen Werken der Aufklärung, so z. B. in Alexander von Humboldt, Ideen zu einer Geographie der Pflanzen (1807).

    (wikipedia.org)


    Und:

    Am Vorabend oder in der Morgenröte der modernen Naturwissenschaft warnt die Ballade [von Schiller] vor einer rücksichtslosen und übereilten Aufdeckung der Naturgeheimnisse, bevor der Mensch die nötige Reife erworben hat, von seinen Erkenntnissen einen verantwortlichen, die Folgen abschätzenden Gebrauch zu machen. Schiller will nicht die Suche nach Wahrheit inkriminieren, sondern die unbedachte Neugier und die zwanghafte, über alle moralischen Hemmungen sich hinwegsetzende praktische Umsetzung des technisch Möglichen. Wie sehr hat die Geschichte Schiller recht gegeben.

    (Jan Assmann, "Das verschleierte Bild zu Sais")

  • Ich kannte diese Ballade von Schiller noch nicht. Das Thema des Menschen, der die Natur (Gott, Schöpfer) erkennen will, um dann selbst zu sein wie Gott, ist ja des öfteren literarisch verarbeitet worden. Und nicht umsonst ist bei Naturvölkern das "Erkennen" eines Menschen (Foto, Namen) verbunden mit der Gewalt über ihn. Adam bekam Gewalt über die Dinge im Paradies, weil er ihnen einen Namen gab. Im Alten Testament spricht Gott auf die Frage nach seinem Namen "Ich bin der Ich bin". Jeder kann sich selbst ausmalen, was der Jüngling gesehen hat. Es spielt sich ja vor unserer Nase ab. Der Mensch geht an sich selbst zugrunde, weil er die Natur niemals beherrschen, sondern durch seine Gier nur zerstören kann.

  • Wie ich schon einmal erwähnte, der Neid ist der Vater und die Gier die Mutter aller Sünden/Verbrechen. Leider wird es immer Menschen geben, die sich über jede Vernunft hinwegsetzen und das Machbare realisieren. Das ist für diese Personen ein wenig wie Gott zu sein, sich so zu fühlen.

    Die Vernunft kehrt erst in das Denken zurück, findet der Mensch im Handeln kein Glück. Scheint so, als wäre es diesmal zu spät, denn die Erkenntnis ist ja da, aber die Gierigen verhindern die Vernunft.