Die Zeit des Wartens. Die Chronik der Familie Cazalet, Teil 2 - Elizabeth Jane Howard

  • ASIN/ISBN: 3423146834


    Elizabeth Jane Howard: Die Zeit des Wartens. Die Chronik der Familie Cazalet, Teil 2, Roman, OT: Marking Time, aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Ursula Wulfekamp, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-42-314683-8, Klappenbroschur, 605 Seiten, Format: 13,4 x 4,5 x 20,8 cm, Buch: EUR 16,80 (D), EUR 17,40 (A), Kindle: EUR 14,99.


    „Es ist dieses ewige Warten, dachte sie; warten darauf, älter zu werden, und darauf, dass der Krieg schlimmer oder besser wird oder vorbei ist.“ (Seite 262)


    Wie schon bei Band 1, DIE JAHRE DER LEICHTIGKEIT, ist auch im zweiten Band der Reihe keine wilde Action zu erwarten. Wir begleiten die wohlhabende britische Unternehmer-Großfamilie Cazalet durch die Kriegsjahre 1939 bis 1941. Dabei erfahren wir mehr darüber, wie es den Frauen und Kindern zu Hause ergeht als darüber, was die Ehemänner und Söhne an der Front erleben.


    William „der Brig“ Cazalet ist 80 und fast blind. Er kann den Holzhandel der Familie nicht mehr leiten. Das übernimmt sein ältester Sohn Hugh, 44, mit Unterstützung seiner jüngeren unverheirateten Schwester Rachel. Die Söhne Edward und Rupert sind im Krieg.


    Die Familie flüchtet zu den Großeltern aufs Land

    Die Häuser in London werden geschlossen. Ehefrauen, Kinder, unverheiratete Schwestern sowie Neffen, Nichten und Freunde der Familie wohnen samt Bediensteten auf dem Anwesen des Brig und seiner Frau „Duchy“: Home Place in Sussex. Waisenkinder und deren Pflegerinnen sind auch noch in einem Nebengebäude untergebracht. In Home Place geht es eng und lebhaft zu, und der Leser hat alle Hände voll zu tun, den Überblick über das Romanpersonal zu behalten. Zum Glück wird ein Stammbaum und eine Who-is-Who-Liste mitgeliefert, sonst wäre man aufgeschmissen.


     


    Auch in diesem Band gibt es nicht den einen einzigen Protagonisten, sondern viele. Dieses Mal kommen hauptsächlich die Teenager zu Wort: die egozentrische Schauspielschülerin Louise (17) und ihre Cousinen, die sensible und grüblerische Polly und die exzellente Beobachterin Clary (beide 15), die von einer Karriere als Schriftstellerin träumt. Sie unterhalten sich, schreiben Tagebuch und Briefe und denken über ihre Erlebnisse, den Krieg, die Familie und das Leben im Allgemeinen nach. Weil sie so unterschiedliche Persönlichkeiten sind, bekommen wir ein buntes Kaleidoskop an Ansichten und Überlegungen präsentiert – und einen sehr differenzierten Einblick in den Alltag der damaligen Zeit.



    Leben und Krieg aus der Sicht dreier Teenager

    Aus heutiger Sicht erscheinen uns die behüteten jungen Mädchen sehr naiv und unerfahren. Sie werden aber auch sehr unwissend gehalten. Ob es um Krankheit, Tod, Liebe S*x oder das Kinderkriegen geht, ständig heißt es: „Das versteht ihr noch nicht, dafür seid ihr noch zu jung.“ Was sie nicht wissen (dürfen), reimen sie sich zusammen. Das macht die Autorin so geschickt, dass man als LeserIn ziemlich genau weiß, was Sache ist, auch wenn die Mädchen selbst es nicht verstehen.


    Entsetzt war ich bei der Vorstellung, dass die Teenies gar nicht aufgeklärt wurden. Sie sind alt genug, mit einem Kerl ins Bett zu gehen, aber selbst, als eine von ihnen von einer mitleidigen Seele ein Verhütungsmittel zugesteckt bekommt, hat sie keine Ahnung, wie sie es anwenden muss. Wie denn ein Gel eine Schwangerschaft verhindern soll, fragt sie sich. Ich glaube, sie hat zu dem Zeitpunkt noch nicht mal eine Ahnung, was bei der Geschichte wo hineinkommt. ;-)


    Bei den jüngeren Kindern des Hauses Cazalet legt die Autorin noch eine Schippe drauf. Die wissen ja noch weniger von der Welt als ihre Teenie-Schwestern und –Cousinen und ziehen ihre eigenen haarsträubenden Schlüsse. Ich weiß, dass sich manche Leser von Lydia, Neville und Judy genervt fühlen. Sie haben ja auch manchmal hanebüchene bis lebensgefährliche Ideen, die sie ungehindert verwirklichen können, weil niemand Zeit hat, sie vernünftig zu beaufsichtigen. Ich finde Neville und Lydia, zu diesem Zeitpunkt 8 Jahre alt, zum Brüllen – wegen Szenen wie dieser:


    Zwei Achtjährige ziehen ihre eigenen Schlüsse :-)

    Norma sagte: „(...) Man kann Männern nicht trauen. Die wollen immer nur das Eine.“


    „Das Eine?“, sagte Neville auf dem Rückweg zu Lydia. (...) „Welches Eine? Das muss ich wissen, denn wenn ich groß bin, werde ich es auch wollen. Und wenn es mir nicht gefällt, überlege ich mir etwas anderes, das ich will.“


    „Ich kann genauso was wollen wie du.“


    „Sie hat nicht gesagt, dass Frauen das Eine wollen.“


    „Das ist mir egal. Ich schon.“


    Den ganzen Heimweg über kabbelten sie sich. (Seite 61)


    Obwohl in dieser Familie sehr viel verschwiegen wird, erfahren wir direkt oder indirekt, was los ist:

    Krieg, Familiendramen - und auch noch Pubertät!

    Neben all den großen und kleinen Familiendramen, dem Krieg, der Angst um die Angehörigen, den Luftangriffen, den Rationierungen und der drangvollen Enge in Home Place müssen die Jungs und Mädels auch noch durch die Pubertät. Polly und Clary, die sich auf dem Land zu Tode langweilen und außer der altjüngferlichen Hauslehrerin Miss Milliment niemanden haben, mit dem sie ihre Fragen, Sorgen und Probleme besprechen könnten, beneiden ihre Cousine Louise, die es geschafft hat, von zu Hause wegzukommen und zur Schauspielschule zu gehen. Damit ist sie zwar der ländlichen Langeweile und der Kontrolle der Cazalets entronnen und hat in der intelligenten, weltgewandten Stella Rose eine Freundin gefunden, dafür hat sie aber andere Sorgen: Konkurrenzkampf, Intrigen, Geldmangel, Hunger, s*xuelle Belästigung und permanente Zukunftssorgen.


    Wie geht es weiter mit den Cazalets?

    Wäre denn ein Leben an der Seite des erfolgreichen Malers Michael Hadleigh eine Alternative für Louise? Er ist klug, interessant und behandelt sie mit Bewunderung und Respekt. Allerdings ist er deutlich älter als sie ...

    Wer nicht unbedingt eine Mörderspannung braucht, sondern gern mal bei anderen Leuten in anderen Zeiten über den Gartenzaun oder durchs Schlüsselloch guckt, der findet hier ein aufschlussreiches und unterhaltsames Porträt einer Familie, einer Gesellschaftsschicht und einer Zeit.


    Es gibt noch drei weitere Bände der Cazalet-Chroniken. Und ich bin wild entschlossen, der Familie auf ihrem weiteren Lebensweg zu folgen.


    Versteckte Anmerkungen

    Die Übersetzerin Ursula Wulfekamp hat sich die Arbeit gemacht, Anmerkungen zu denjenigen Namen und Begriffen zu verfassen, die dem deutschen Leser der heutigen Zeit vermutlich nichts sagen werden. Im Inhaltsverzeichnis wird das erwähnt. Leider ist im Text selbst kein Verweis auf diese hilfreichen Erläuterungen. Ein Sternchen bei den jeweiligen Vokabeln wäre hilfreich gewesen. Sofern man überhaupt registriert hat, dass es die Anmerkungen gibt, schlägt man also bei Verständnisschwierigkeiten auf Gut Glück hinten nach – und bekommt dort oft ganz andere Begriffe erklärt, als den, den man gesucht hat. Ich denke, da geht noch was!


    Die Autorin

    Elizabeth Jane Howard wurde am 26. März 1923 in London geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin und Modell, bevor sie 1950 ihren ersten Roman, ›The Beautiful Visit‹, schrieb, für den sie 1951 mit dem John Llewellyn Rhys Prize ausgezeichnet wurde. Es folgten weitere Romane, eine Sammlung von Kurzgeschichten und Slipstream (2002), ihre Autobiographie. Bis 1983 war sie verheiratet mit Kingsley Amis und damit die Stiefmutter von Martin Amis, der es ihr, wie er sagt, verdankt, dass er zum Schriftsteller wurde. Im Jahr 2000 verlieh Queen Elizabeth II. ihr den Verdienstorden Commander of the British Empire. Am 2. Januar 2014 verstarb Howard mit 90 Jahren in ihrem Haus in Suffolk.


    Die Übersetzerin

    Ursula Wulfekamp, 1955 im südenglischen Salisbury geboren, übersetzt seit über dreißig Jahren Belletristik und kunsthistorische Sachbücher aus dem Englischen. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen gehören u.a. Tracy Chevalier, Maeve Binchy und Joanne Harris. Ursula Wulfekamp lebt in Prien am Chiemsee.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner