Ein Buch wie ein Wollknäuel
Aus Wolle kann man tolle Sachen machen: Pullover, Mützen, notfalls sogar diese Überzüge für Klorollen, die sich die Leute früher auf die Hutablagen ihrer Autos gelegt haben. Man kann die Wolle aber auch als Knäuel geformt lassen. Das ist weich und hübsch und nett anzusehen, und möglicherweise mögen es die Katzen. Allein, es hat weniger Nutzen als ein Pullover oder eine Mütze oder ein Klorollenschoner. Erst in diesen Formen erfüllt die Wolle ihren Sinn.
Was ich mit dieser - wahrscheinlich eigenartig anmutenden - Metapher zu sagen versuche: Es gibt Schönheit fraglos auch ohne Zweck. Manchmal ist der sprichwörtliche Weg tatsächlich das Ziel, und ein Knäuel ist ein Teil des Weges, den Wolle üblicherweise nimmt. Aber ohne Ziel gibt es keinen Weg, und selbst wenn man ohne ein konkretes Bestreben unterwegs ist, führen alle Wege doch - meistens - irgendwohin, und sei es auch nur zum Ausgangspunkt zurück.
Bei "Die Zehnjahrespause" ist das auf seltsame Weise anders. In diesem Buch geht es zwar um etwas, keine Frage, es geht sogar um einiges, aber alle angestoßenen Handlungen, aufgeworfenen Fragen und erwähnten Aspekte bleiben gleichsam in Knäuelform. Meg Wolitzer strickt keinen Pulli und keine Mütze, sie enthält uns das vor. Stattdessen wirft sie uns die Wollkugel hin.
Der Roman erzählt von den New Yorker Freundinnen Amy, Karen, Jill und Roberta. Alle vier sind während der letzten zehn Jahre Hausfrauen und Mütter gewesen, und sie sind jetzt mit der Frage konfrontiert, ob sich etwas ändern, wie es weitergehen soll. Amy war vor der Geburt des Sohnes Anwältin, hat ihren Job aber nie wirklich geliebt. Jill lebt im pittoresken, aber (ihrer Meinung nach) strunzlangweiligen Vorort, dessen Name wie der eines Pornostars klingt, und muss sich der Tatsache stellen, dass das Adoptivkind Nadia einerseits inselbegabt, andererseits kommunikativ eingeschränkt ist. Roberta hadert mit der überraschenden, späten Karriere des Ehemanns und der eigenen Unfähigkeit, selbst einfach wieder - wie früher einmal - Künstlerin zu sein. Nur Karen, die mathematisch Hochbegabte, ist überwiegend zufrieden. Ihr Leben ist zwar pragmatisch, linear und arm an Phantasie, aber sie und ihr ebenfalls genialer Mann schwingen nach wie vor im Gleichtakt, etwa beim allabendlichen Primzahlenaufsagen.
Glaubt sie jedenfalls.
Die vier Frauen bewältigen ihren Alltag und den ihrer Familien, und sie treffen sich beinahe täglich im New Yorker Café "Golden Horn" an ihrem Stammtisch. Dort tauschen sie sich aus, teilen Sorgen, Glück, Ängste und Erfolge, beobachten einander und sich selbst. Die Offenheit hat allerdings Grenzen. Nicht alles, was der Leser erfährt, wenn abwechselnd aus den Perspektiven der vier Frauen und zuweilen in weit in die Vergangenheit zurückreichenden Rückblenden erzählt wird, erzählen die Freundinnen auch einander. Aber das meiste.
Die Handlung verläuft unspektakulär, fast schon beschaulich. "Die Zehnjahrespause" erzählt vom Alltag, von gesellschaftlichen Zwängen, von Lebensmodellen, von Erziehung, Konkurrenzkampf, Abhängigkeiten, Rollenmodellen, Selbstwertgefühl und Anerkennung durch andere. Meg Wolitzer schreibt in der Tradition der großen amerikanischen Erzähler, sehr anschaulich, irre klug und ziemlich empathisch. Die Dialoge sind großartig, viele Beobachtungen schlicht verblüffend. Trotzdem kommt einem keine der vier Frauen wirklich nahe, was auch daran liegen mag, dass die Problematiken sehr artifiziell und akademisch angelegt sind. Und die Frauen trotz der sehr unterschiedlichen Vitae dicht an der Ununterscheidbarkeit lavieren. In dialogreicheren Szenen verliert man schnell den Überblick.
Der Feminismus schwingt als Thema jederzeit mit, steht aber nicht im Zentrum. Es geht auch eher um jenen Feminismus, der sich erfolgreich zeigt, wenn Frauen einfach die Art von Leben leben können, das sie sich wünschen. Das ist bei diesen vier Hauptfiguren durchaus der Fall. Keine von ihnen würde etwas ändern wollen, wäre der derzeitige Zustand sicher und gäbe es keine Handlungszwänge. Ob die allerdings tatsächlich vorliegen, bleibt fraglich. Konsequenterweise versandet der Roman am Ende einfach.
"Die Zehnjahrespause" - angesiedelt im Jahr 2008 - liest sich durchaus schön, obwohl der Text so ungeordnet und wenig zielstrebig daherkommt, dabei Botschaft und Prämisse energisch verschweigt, sich in dramaturgischer Flachheit gefällt und sich am Ende anfühlt wie ein langer Nachmittag in einem gemütlichen New Yorker Café, während dem man vier Frauen am Nachbartisch belauscht hat, ohne das gewollt zu haben. Vielleicht wollte Meg Wolitzer genau das: Einen Roman schreiben, der den Leser dazu bringt, den Frauen einfach nur zuzuhören.
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ASIN/ISBN: 3832181075 |