Eva Menasse: Tiere für Fortgeschrittene

  • Führung durchs menschliche Beziehungsleben


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    Während die im Vergleich zu den Menschen noch nicht so fortgeschrittenen, weiterhin „wild“ lebenden Tiere vor allem ums Überleben kämpfen und zugleich eher unfreiwillig für die Arterhaltung sorgen, haben wir Aufrechtgehende etwas erfunden, das Quelle von viel Freude, aber auch von einigem Leid ist: Beziehungen. Wir gehen Partnerschaften ein, gründen zweite und dritte Familien, freunden uns an und gesellen uns dazu. Aber wir ertragen auch, wo wir ohne Beziehung besser dran wären, wir kämpfen um Macht und Positionen in zuweilen bedeutungslosen Mikrokosmen, wir betrügen und hintergehen und trennen uns, wir nähern uns an und missverstehen dabei, wir machen alles falsch, einfach weil niemand festgelegt hat, was richtig wäre.


    Eva Menasse, die Wienerin, die inzwischen in Berlin-Schöneberg lebt, hat im Jahr 2013 einen der meiner Überzeugung nach besten Romane des Jahrzehnts vorgelegt, nämlich „Quasikristalle“ - die lebensumspannende Geschichte einer Frau, geschildert in dreizehn Kapiteln, die jeweils aus der Perspektive einer anderen Person erzählt wurden, mit der die Hauptfigur, Roxane Molin, mehr oder weniger starken Kontakt, sie also beeinflusst hatte. Auch in diesem Buch ging es, wie der Titel bereits andeutet, um Muster und Strukturen im menschlichen Zusammenleben. „Tiere für Fortgeschrittene“, 2017 publiziert, sucht sie auf der sozialen Ebene, in der Gestaltung von Beziehungen - Familien, Ehen, Liebesbeziehungen, Freund- und Bekanntschaften.


    Jeder der acht Geschichten, die sich wie Kurzromane lesen, ist eine Anekdote aus der Tierwelt vorangestellt - kuriose Informationen wie etwa diejenige, dass Enten mit einem offenen und einem geschlossenen Auge schlafen können und dabei nur eine Gehirnhälfte ausruhen. Oder darüber, dass Schlangen, wenn sie in Bäumen klettern, mehr Kraft als nötig dafür aufwenden, nicht herunterzufallen, also den Status Quo abzusichern. Diese Anekdoten sind die Gleichnisse und Metaphern, die von der jeweils folgenden und in allen acht Fällen bravourös erzählten Geschichte illustriert, ausgeschmückt, verdeutlicht und auf die Welt der Menschen übertragen werden.


    Da ist der alte Mann, der, wie er glaubt, die Demenz seiner geliebten Frau aushalten muss, da ist die Nachfolgerin, die dagegen ankämpft, dass die Ex ihres Mannes die Familie sabotiert, da ist ein Psychologe in einer zukünftigen Künstler- und Wissenschaftlerkolonie, in der niemand genau weiß, was der Zweck der Veranstaltung ist, da ist ein Ehepaar auf der Reise in die eigene Vergangenheit, während die Frau in der Gegenwart emotional längst woanders lebt, da ist eine Mutter, deren Tochter auf eine Berliner Brennpunktschule geht, und die sich im Haifischbecken mit überambitionierten, pseudoliberalen Helikoptereltern wiederfindet. Die unterschiedlichen Settings und Perspektiven fließen ineinander, und Eva Menasses unglaublicher Erzählton, ihre sprachliche Perfektion und ihre Fähigkeit, Figuren und Situationen so kristallklar zu zeigen, dass selbst ein Bild keine ergänzenden Details liefern könnte, ziehen die Leser durch diese knapp 320 hochverdichteten Seiten. Aber die Stärke der Geschichten liegt in ihrer entwaffnenden Präzision und Authentizität.


    „Tiere für Fortgeschrittene“ ist keine klassische Anthologie, keine Sammlung von Storys, denen ein gemeinsames Thema übergestülpt wurde, sondern ein klug geführter Gang durchs menschliche Beziehungsleben, wie an der Hand eines Primatenforschers durchs Affenhaus des örtlichen Zoos - mit dem Unterschied, dass man sich hier auf beiden Seiten der Gitter zugleich befindet, was für den Forscher gleichfalls gilt. Es ist spannende, kluge und sprachlich nahezu konkurrenzlose Lektüre, die bei mir die Vorfreude auf die unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung von Eva Menasses neuem Roman „Dunkelblum“ noch verstärkt hat.


    ASIN/ISBN: 3442716624