Iris Kammerer: Der Tribun

  • Heidi : Ich konnte mich mit Cinna hervorragend identifizieren - aus einer Kultur herausgerissen, in der er seinen festen Platz hatte und nun in einer neuen, in der er eine weitaus inferiore und manchmal undefinierte Rolle (aus seiner Sicht) zu spielen hat, die ihm nicht behagt und die ihm ausserdem nicht angemessen ist.
    Er muss sich seine Stellung neu erkämpfen oder verdienen (je nach Situation und der Person, mit der er es zu tun hat).

  • Zitat

    Original von Heidi Hof
    Warum schickst du den armen Cinna direkt in diese bescheidene Situation, mir wären 50 Seiten vorweg lieber gewesen, um ihn in ein anderes Licht zu stellen. Denn so unangenehm ist er ja gar nicht, ein wenig mehr "Held" hätte ihm gut gestanden ;-)


    Da siehst du ihn anders, als ich ihn sehe. Wenn ich ihn von Anfang an als "Helden" dargestellt hätte, hätte es keine Entwicklung gegeben -- abgesehen davon, daß ich ihn keinesfalls als "Helden" sehe, sondern als jemanden, der erst einmal lernen muß, sich anständig zu benehmen.
    Außerdem wären m.A.n. die Barbaren bei den Lesern übel weggekommen, wenn ich sie einen Sympathieträger so hätte behandeln lassen.


    Zitat

    Bis jetzt (Seite 350) habe ich dadurch gar keine Beziehung zu den Figuren herstellen können, weil ich keinen direkten Sympathie-Träger gefunden habe :-(


    Hier prallen zwei unterschiedliche Meinungen aufeinander. Mir geht es nämlich ganz anders: Mich nerven Romane, deren Helden Sympathie-Träger sind. Ich mag das nicht, wenn einer arg "gut" ist, das ist m.A.n. unrealistisch, es blockiert für mich jede Möglichkeit, mit den Figuren zu fühlen. Außerdem läßt es bei den Figuren keine Entwicklungen zu, nur gewisse Entfaltungsmöglichkeiten von etwas, das schon erkennbar vorhanden ist, und das ist mir persönlich einfach zu wenig.


    Ich sag ja: Hier prallen zwei unterschiedliche Meinungen aufeinander. :-)



    Oryx, das war genau das, was ich mit dem Roman aussagen wollte -- aber es gefallen nun mal nicht jedem Leser die gleichen Aussagen. :-)

  • Eigentlich prallen hier keine unterschiedlichen Meinungen aufeinander, Iris :-)
    Denn Eure Kommentare (Oryx) kann ich direkt nachvollziehen, und leuchten mir ein. Wie gesagt, bis jetzt habe ich in dieses Genre noch nicht so tief meine Nase hineingesteckt, doch der Sympathieträger war in den anderen Bücher immer gleich vorhanden. Und nach 350 Seiten kann ich auch über deine Hintergründe nur spekulieren, und so war mir das aufgefallen.


    Jetzt bin ich sehr neugierig geworden wie sich Cinna weiter entwickelt. Als er die Frauen verteidigt hat, kamen erste Sympathien auf ;-)

  • Zitat

    Original von Oryx
    Heidi : Ich konnte mich mit Cinna hervorragend identifizieren - aus einer Kultur herausgerissen, in der er seinen festen Platz hatte und nun in einer neuen, in der er eine weitaus inferiore und manchmal undefinierte Rolle (aus seiner Sicht) zu spielen hat, die ihm nicht behagt und die ihm ausserdem nicht angemessen ist.
    Er muss sich seine Stellung neu erkämpfen oder verdienen (je nach Situation und der Person, mit der er es zu tun hat).


    Ich sah in dieser Rolle auch immer die Situation von Aussiedlern, die zu uns nach Deutschland kamen, und noch kommen. Hier sieht man deutlich paralellen, wie es ihnen gegangen ist, bzw. wie sie den Umgang mit den heimischen ertragen mussten.

    Gruss Hoffis :taenzchen
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    :lesend Der fünfte Tag - Jake Woodhouse
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  • Zitat

    Original von Heidi Hof
    Wie gesagt, bis jetzt habe ich in dieses Genre noch nicht so tief meine Nase hineingesteckt, doch der Sympathieträger war in den anderen Bücher immer gleich vorhanden.


    Ich schreibe eigentlich auch nicht "genretypisch", wenn man mal die breite Masse der veröffentlichten Romane als Maßstab nimmt. :grin


    Wobei ich noch einmal darauf hinweisen möchte, daß "Genre" keine qualitative Unterscheidung ist, sondern eine thematische. In jedem Genre gibt es starke graduelle Unterschiede von Trivialromanen bis hin zu Hochliteratur.


    Zitat

    Jetzt bin ich sehr neugierig geworden wie sich Cinna weiter entwickelt. Als er die Frauen verteidigt hat, kamen erste Sympathien auf ;-)


    Und ich bin auch weiterhin gespannt, wie er bei dir ankommt.

  • Zitat

    Original von Hoffis


    Ich sah in dieser Rolle auch immer die Situation von Aussiedlern, die zu uns nach Deutschland kamen, und noch kommen. Hier sieht man deutlich paralellen, wie es ihnen gegangen ist, bzw. wie sie den Umgang mit den heimischen ertragen mussten.


    Diese Auseinandersetzung freut mich! :-]
    Denn ich versuche, über die erzählerischen Aspekte, eine interessante, spannende Geschichte zu schreiben, hinaus allgemeinmenschliche Themen anzusprechen und die eine oder andere Frage aufzuwerfen, die einfach immer dagewesen zu sein scheint. :-)

  • Zitat

    *seufz* Gebt es zu, Ihr habt es auf mein Konto abgesehen. So viele Bücher, wie ich in den letzten Tagen hier wieder bestellt habe, kann ich in den nächsten Jahren gar nicht alle lesen... Dafür bräuchte ich wohl ganz viel Urlaub... Cry


    Dieses ist also jetzt auch auf meinem SUB gelandet...


    Am Besten, ich schaue hier in die Vorstellungen erst einmal eine Weile nicht herein... ;)


    es gibt ja auch noch sowas wie bibliotheken. jede einigermaßen gut sortierte buchverleihanstalt sollte die bücher von iris kammerer im sortiment haben. die bücher sind einfach spitzenliteratur.

  • Iris


    Zitat

    Ich schreibe eigentlich auch nicht "genretypisch", wenn man mal die breite Masse der veröffentlichten Romane als Maßstab nimmt. Grinsen


    Ja und deshalb haben mir die Bücher auch so gut gefallen. Sie heben sich von der Masse ab und sind irgendwie etwas besonderes.
    Eigentlich erwartet man das vom äußeren nicht unbedingt und wird dann angenehm überrascht. Ging mir jedenfalls so.

  • Hoffis : Aber Cinna ist im Vergleich zu ihnen der Oberschicht zugehörig und an Macht gewöhnt. Die meisten Fremden in Deutschland haben nicht dieses Profil. Ihre Arroganz ist nicht in ihrer kulturellen und technologischen Überlegenheit begründet, sondern ist eine Maske, die ihre Unsicherheit verdecken soll. Gleiches gilt für ihre latente Agressivität, die eher einem in die Enge getriebenen Tier ähnelt.


    Wenn man einer gesellschaftlichen Schicht angehört, die zur Elite zählt, dann ist das Auftreten Cinnas normal und wird nicht als arrogant empfunden, sondern als angemessen. Natürlich hat Cinna dann ein Anrecht auf eine Vorzugsbehandlung, die ihm ungerechterweise verweigert wird.


    Ein römischer Sklave oder Bauer hätte nicht die gleiche Ansprüche gestellt und sich wohlmöglich gleich untergeordnet, um sein Leben zu retten.

  • Oryx : Nach dem 2. Weltkrieg wurden alle, egal wieviel er besaß, aus den ehemaligen osteuropäischen Gebieten vertrieben. Und das nur mit dem was sie auf Leibe getragen haben. In BaWü, speziell im Landkreis Ludwigsburg betrug nach dem Krieg der Anteil der Flüchtlinge an der Bevölkerung über 25%. Und hier waren es hauptsächlich die Reichen, die enteigned und vertrieben worden sind. Die "Armen" kommen meist jetzt erst in unser Land.
    Doch zurück zu Cinna. Sein größtes Problem war doch für ihn, unter Barbaren zu leben, die ihm zeigten, daß sie keine unwissende "Bauern" sind, sondern genauso gebildet und weitgereist sind. Für ihn brach hier die klischee-behaftete Welt des arroganten Römers zusammen.
    Im zweiten Roman darf er dann selbst gegen diese Vorurteile ankämpfen.

    Gruss Hoffis :taenzchen
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    :lesend Der fünfte Tag - Jake Woodhouse
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  • Hoffis : Aber diese Menschen sprachen die gleiche Sprache und hatten ähnliche Werte und wurden doch Vertriebene genannt?


    Die heutigen Aussiedler in D können kaum die Sprache und kommen aus einem anderen Kulturkreis (z.B. Kasachstan).


    Wenn ich mein erstes Mal als Student in München hernehme, dann war das für mich schon ein kleiner Kulturschock, weil man viele Dinge in D selbst machen muss, für die man in anderen Ländern Leute hat, die einem das abnehmen - im Supermarkt eintüten, in der Tankstelle einem das Benzin einfüllen, Kofferträger, etc. Man käme gar nicht auf die Idee nach dem Ölstand zu sehen, weil das macht ja jemand, wenn man zum Tanken fährt und man muss sich auch nicht die Finger schmutzig machen.

  • Oryx Koala kommt aus solch einer Familie. Sie wurden nach dem Krieg aus der Tschechei herausgeprügelt, und mussten bis Wien laufen. Nach kurzen Aufenthalt in Wien wurden sie nach Deutschland gekarrt, und aus riesigen Auffanglagern verteilt auf sämtliche Dörfer, wo es an Arbeitskräften in der Landwirtschaft fehlten. Hier wurde nicht gefragt, was hast du vorher gemacht! Dann wurden Anfang der 50ern die Ausgleichszahlungen gemacht, die aber den Wert des Zurückgelassenen nie erreicht haben. Und speziell die Tschechei halten sich immer noch an das alte Dekret und gibt die alten Besitztümer nicht heraus!


    Die meisten heutigen Aussiedler sind hauptsächlich Wirtschaftsflüchtige, die oft dem Deutschen Staat auf der Tasche liegen, arbeitslos sind und denen auch eine Integration meist nicht viel am Hut liegt.


    Wie du deine Erfahrung schreibst, kommst du als edler "Römer" in unsere Lande und musst dein Leben bei uns Barbaren auch erst lernen. :-]

    Gruss Hoffis :taenzchen
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  • Interessante Diskussion. :wave


    Oryx, ich bin offen gestanden sehr froh, daß diese Handlanger-Dienstleistungen bei uns nicht Sitte sind. Für mich widerspiegelt dieses "Fehlen" eine andere Form des Bürgertums, eine modernere, weniger von Feudalismus und Kolonialismus geprägte. Es mag ganz angenehm sein, wenn einem überall -- salopp gesprochen -- der A#### nachgetragen wird, aber zugleich zeigt es ein starkes soziales Gefälle, es bezeugt materielle Not, die Menschen nötigt, den "Bessergestellten" besagten A#### nachzutragen. Es zeugt von einer sozialen Spaltung und Spannung zwischen denen, die bedient werden, und denen, die bedienen.


    Die Handlanger-Dienstleistung des Einkaufstütenpackens in den USA ist ohnehin der übelste Etikettenschwindel zur Kundenbindung. Man muß schon arg naiv sein, da drüben abgepacktes Fleisch und Convenience-Waren zu kaufen. Vieles (selbstverständlich nicht alles!!!) von dem, was in den USA hochglanzverpackt in den Supermarktregalen liegt, hätte in Europa nicht die geringste Chance, die ach-so-lästigen Prüfungen von Gesundheitsämtern und veterinärmedizinischen Instituten zu bestehen -- ich erwähne nur mal die massive Hormon-Mast, die bei uns zum Skandal wird, in den USA aber völlig normal ist.
    Aber das ist ein ganz anderes Thema. ;-)



    Ich habe im Falle Cinna grundsätzlich weniger an Vertriebene gedacht als an andere Vorfälle. An das Phänomen des "cultural clash", an das Problem der "Leitkultur" (Stichwort: "Amerikanisierung"), sogar an den Terrorismus in Deutschland (RAF), aber vor allem im Nahen Osten, wo so mancher Angehörige einer superioren Leitkultur sich durch eine Entfürhung in einer völlig fremden Umgebung wiederfand, nämlich tatsächlich in der Welt, die er nur aus der Perspetive des "Eroberers" kannte und mit der er zurechtkommen mußte. Ich habe mir auch Gedanken über das "Stockholm-Syndrom" gemacht, über die Entführung von Patty Hearst u.v.m.
    Das alles waren Themen, mit denen ich aufgewachsen bin und die mich immer wieder beschäftigt haben. Es sind nicht die einzigen Themen, die mich beschäftigen, aber beileibe keine unwichtigen für mich.


    Und warum dann einen historischen Roman und keinen zeitgeschichtlichen?
    Einerseits wollte ich keine Verwicklungen in noch immer aktuelle politische Bezüge riskieren, um das eigentliche Thema unabsichtlich zu bagatellisieren. Andererseits geht es mir mit der Menschheitsgeschichte und ihrer Umsetzung in historische Prosa wie Gertrud von Le Fort: »Ich habe das Historische nie als eine Flucht aus der eigenen Zeit empfunden, sondern als einen Abstand, von dem aus man die eigene Zeit schärfer erkennt.«

  • Sehr interessant. Mir kam es auch so vor, dass da ein Zusammenprall zweier Weltbilder erfolgten, und das Verhalten des Entführten sehr präzise das übliche Verhalten von Entführungsopfern schildert. (Ich kenne einige Menschen, die teilweise monatelang entführt waren und die jeden Tag fürchten mussten, es sei ihr letzter.)


    Ich sehe aber nicht, wieso eine Dienstleistung wie die Einkaufstüten nach Putzmitteln, Lebensmitteln, Getränken und Tierprodukten zu packen und zum Auto zu tragen, Spannung erzeugen sollte.


    Der junge Mann, der mir gestern meine Tüten gepackt hat, hat mich nach der Rasse meines Hundes gefragt und dann erzählt, dass er daheim einen Labrador und eine Mischung aus Alaskan Malamute und Deutschem Schäferhund hätte und wie dieser Haare verlieren würde und dass man ihm gesagt hätte, er dürfe noch kein Krafttraining machen, weil er sonst nicht wachsen würde (ich war in meinen Sportklamotten, weil frisch aus dem Gym und auf dem heimweg). Es sind zumeist junge Leute, die sich ein paar Pesos am Abend dazuverdienen mit einer ausgeprägten Servicementalität aber bei gleichzeitiger Unbefangenheit.


    Da soziale Spannungen hineinzudeuten liegt wohl daran, dass es in Europa als unwerte Tätigkeit verachtet wird, während man hier mit seinem Tankwart übers Wetter redet.
    Ich habe bisher wenige Menschen in Europa gesehen, die an der Fleischtheke eines Supermarktes mit dem Verkäufer über ein aktuelles Thema geredet hätten, geschweige denn 20 min. mit der Putzfrau eines Betriebes.


    In anderen Ländern sind diese Dienstleistungen akzeptiert und auch anerkannt, weil jeder mal arbeitslos werden kann und dann den erstbesten Job annehmen muss, um zu überleben und sich nicht in der "sozialen Hängematte" ausruhen kann.
    Ausserdem übernehmen diese Leute so viele Aufgaben, dass sie einem das Leben und seine Arbeit so erleichtern, dass man sich besser auf das konzentrieren kann, wozu man ebenfalls bezahlt wird.

  • Hallo, meine lieben Cinna-Freunde,


    jetzt will ich euch mal die Zähne ein bisschen lang machen!


    Gut die Hälfte habe ich bisher schon gelesen von Teil 3 der Cinna-Saga - und ich darf sagen: Es wird wieder klasse! Mir persönlich gefällt Teil 3 (ätsch-bätsch, ihr müsst noch bis ca. Jahresende warten!) noch besser als die ersten beiden...


    Nur, damit wir mal wieder darüber geredet haben! :grin


    Liebe Grüße