Die Suche nach Heimat. Mascha Kalékos leuchtende Jahre. - Indra Maria Janos

  • Ich weiß nicht genau, wohin mit diesem Buch - eine Romanbiographie ist ja keine reinrassige Biographie. Ich habe jetzt mal diese Rubrik gewählt. Wenn jemand der Verantwortlichen diese Buchvorstellung anderswo haben will, soll es mir auch recht sein.


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    Indra Maria Janos: Die Suche nach Heimat. Mascha Kalékos leuchtende Jahre, München 2022, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-26341-2, Klappenbroschur, 364 Seiten, Format: 13,1 x 3,3 x 20,8 cm, Buch: EUR 16,95 (D), EUR 17,50 (A), Kindle: EUR 12,99, auch als Hörbuch lieferbar.


    „Diese Stadt ist meine Heimat, hier habe ich wundervolle Jahre verbracht […]. Es ist unbegreiflich, dass dieselben Menschen, die einst meine Gedichte geliebt und mit mir gefeiert haben, plötzlich zu Feinden geworden sind. Aber ich habe es erlebt, ich erlebe es täglich.“ (Seite 346)


    Ich weiß: An Roman-Biographien scheiden sich die Geister.


    Manchen Leser:innen ist diese Art der Aufbereitung außergewöhnlicher Lebensgeschichten zu phantasievoll ausgeschmückt, Sie bevorzugen die harten Fakten einer echten Biographie. Das ist vollkommen in Ordnung, aber da sind sie hier falsch. 😊 In dieser Roman-Biographie geht’s um eine teilfiktionale Erstbegegnung mit der Dichterin Mascha Kaléko.


    Zu modern für ihre Zeit

    Berlin in den 1920er-Jahren: Die eigenwillige und unangepasste Mascha ist schon als Teenager zuhause rausgeflogen. Oder wie soll man das nennen, wenn die Familie kein gutes Haar an ihr lässt und ihr ständig damit in den Ohren liegt, sie möge endlich aus dem Elternhaus verschwinden? Dabei tut sie gar nichts Schlimmes, sie ist nur zu modern für ihre Zeit. Die Rolle der braven, jüdisch-orthodoxen Ehefrau, Hausfrau und Mutter ist einfach nichts für sie. Sie will Dichterin werden und von der Veröffentlichung ihrer Werke in Zeitungen und Büchern leben.


    Diesen Traum haben natürlich viele, aber Mascha hat einen Plan und eine Strategie. Um sich über Wasser zu halten, arbeitet sie als Kontoristin bei der Jüdischen Organisation. Privat erfindet sie sich neu. Aus der galizischen Jüdin Golda wird die Polin Mascha Engel. Sie ist ständiger Gast im Romanischen Café, in dem „alle wichtigen Künstler, Journalisten und Verleger Berlins“ (Seite 17) verkehren. Dort will sie berufliche Kontakte knüpfen und in den „inneren Kreis“ vordringen. Wenn sie mit den Entscheidungsträgern erst einmal persönlich bekannt ist, müsste es doch ein Leichtes sein, ihnen ihre Texte zu geben. Deren Qualität wird sie schon überzeugen.


    Auch wenn es gar nicht seine Welt ist, geht Maschas Freund, der neun Jahre ältere und etwas biedere Hebräisch-Lehrer Saul Kaléko, gelegentlich zu ihren Künstlerfreunden mit.


    Eine Ehe voller Kompromisse

    Es ist eine Beziehung voller Kompromisse: Saul nimmt es hin, dass Mascha in absehbarer Zeit keine Kinder haben will, dass ihre hausfraulichen Ambitionen minimal sind und dass sie oft allein ausgeht. Mascha nimmt es hin, dass Saul sich mehr und mehr zu einem Stubenhocker entwickelt, dass er an ihrer Künstlerinnenkarriere wenig Interesse zeigt und selbst dann nicht mitkommen möchte, wenn sie irgendwo auftritt. Also ist sie ohne ihn unterwegs, trifft Freunde und Künstlerkollegen und flirtet mit anderen Männern.



    Letzte Hoffnung: Emigration?

    „Die Nationalsozialisten versuchen gerade, unser gesamtes kulturelles Selbstverständnis zu zerstören“, brummte Saul […]. „Wie viele unserer Bekannten und Freunde sind schon fortgegangen? Journalisten, Autoren, Künstler, Schauspieler … A d o l f H i t l e r ist noch nicht einmal drei Monate Reichskanzler, und schon hat er die gesamte Elite der deutschen Literatur- und Kunstszene vertrieben.“ (Seite 195)


    Berlin in den 1930er-Jahren: Mit Sorge beobachtet Saul Kaléko die politische Entwicklung und drängt auf umgehende Auswanderung nach Palästina. Aber Mascha will nicht.

    Dieses Zögern, Herumlavieren und Hinhalten kann jetzt für alle Beteiligten lebensgefährlich werden …


    Mit Originalgedichten von Mascha Kaléko

    In diesem Buch geht’s ausschließlich um Maschas Berliner Jahre. Wie es für sie weiterging und ob sie doch noch irgendwo sowas wie eine Heimat gefunden hat, wird lediglich im Epilog gestreift. Es gäbe über diese interessante Frau schon noch einiges zu erzählen.


    Eingebettet in die Geschichte sind Originalgedichte von Mascha Kaléko. Die Stimmung darin und selbst einige der Formulierungen finden sich im Roman wieder. Man kann sich gut vorstellen, dass die Hauptpersonen wirklich so gedacht und gefühlt haben könnten, wie Indra Maria Janos es in ihrem Roman beschreibt.


    Ängste und Ambitionen

    Ich konnte Maschas für damalige Zeiten unkonventionelle Ambitionen nachvollziehen – und in gewisser Weise auch ihr unvernünftiges Festhalten an der vermeintlichen Sicherheit von Ehe und Heimat. Beides will sie nicht aufgeben. Wie es war, heimatlos und allein auf sich gestellt zu sein, das hat sie ja schon erfahren.


    Mir hat ihr Mann leidgetan. Saul lebte in einer ganz anderen Welt als seine Frau und hat entweder nicht mitbekommen, was um ihn herum vorgeht, oder er wollte es nicht wahrhaben. Ein netter Kerl, ein bisschen spießig vielleicht, der mit Mascha und ihrem Umfeld etwas überfordert wirkte.


    Aufgrund des Epilogs habe ich nach dem weiteren Leben von Mascha und ihren Angehörigen gegoogelt. Und das würde mich jetzt doch im Detail interessieren! Dankenswerterweise gibt’s ein Literaturverzeichnis und da ist auch eine Biographie aufgeführt. Die habe ich jetzt mal auf meine Leseliste genommen. Auf diese Idee wäre ich ohne diesen Roman nie gekommen. Und das schätze ich an diesem Genre: Es unterhält den Leser und macht ihn ein kleines bisschen schlauer. Mit der Option auf mehr.


    Die Autorin

    Indra Maria Janos ist das Pseudonym einer Autorin, die erfolgreiche Unterhaltungsromane schreibt. Neben dem Schreiben sind das Theater, ihre Vierbeiner und England ihre großen Leidenschaften. Über Mascha Kaléko hat sie bereits ein Theaterstück verfasst. Dazu ein Zitat aus dem Nachwort des Buchs: Dass ich die Rolle der Mascha Kaléko viele Male auf der Bühne verkörpern durfte, ist für mich eine besondere Ehre. Ihre Gedichte begleiten mich seitdem und ich habe mich mit ihr und ihrem Leben all die Jahre intensiv auseinandergesetzt.“ (Seite 361)


    ASIN/ISBN: 3423263415

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Vandam ()

  • Es unterhält den Leser und macht ihn ein kleines bisschen schlauer. Mit der Option auf mehr.

    Damit hat Vandam eigentlich alles wunderbar kurz gesagt. :anbet


    Teil 1: Es unterhält den Leser

    Ja, definitiv. Ein richtiger Schmöker zum Weglesen. Es ist keine große Literatur, sondern gut lesbar verpackte Fakten in Romanform. Ohne großen Tiefgang oder Charakterzeichnung. So manche Handlung konnte ich nicht nachvollziehen und gerade am Anfang hat mich die Autorin mit ihrem Namedropping bekannter Persönlichkeiten mehr verwirrt als erhellt. Das könnte man alles bemängeln, mich hat das hier wenig gestört, denn ...


    Teil 2: und macht ihn ein kleines bisschen schlauer.

    ... für mich stand die Annäherung an die Person Mascha Kalékos und ihrer Werke im Vordergrund. Und das fand ich wunderbar gelungen. :thumbup:Ihr Leben und ihr Erleben in ihrer Berliner Zeit, die sie selbst als leuchtende Jahre bezeichnet, empfand ich gut eingefangen und konnte so die werdende Dichterin auf einem Stück ihres Lebens begleiten. Soweit ich es beurteilen kann, hat sich Indra Maria Janos dabei auf die bekannten Fakten gestützt.


    Bedrückend, aber zeitgeschichtlich interessant ist auch das Umfeld, in dem sich Mascha Kaléko bewegt. Die jüdisch geprägte Künstlerschaft, die zunehmend unter den Repressalien der Nazis zu leiden hat, wird greif- und erlebbar. Ich konnte den Zwiespalt, in dem die Künstlerin und viele ihrer Leidensgenossen stecken, gut nachvollziehen. Auf der einen Seite will man die (geliebte) Heimat nicht verlassen, auf der andere Seite wird es dort, wo man sich sicher fühlte, zunehmend bedrohlich. Natürlich beeinflusst diese äußere, sehr schwierige Situation das Erleben Mascha Kalékos im Buch, überlagert es aber nicht, so dass Raum bleibt für das ganz private Glück.


    Teil 3: Mit der Option auf mehr.

    Vandam hat es wahrscheinlich anders gemeint:wave, für mich war die "Option auf mehr" in diesem Buch die wunderbaren Gedichte Mascha Kalékos, die genau abgestimmt zwischen den einzelnen Kapiteln abgedruckt waren. Dies und die Verbindung zwischen Text und Gedichte machen für mich das Buch zu einem besonderen Leseerlebnis. Das fand ich hervorragend gemacht und hat mir zudem die Lyrik Kalékos sehr viel näher gebracht. Und da sind wir dann doch wieder bei der "Option auf mehr", denn ganz sicher werde ich immer wieder mal nach Gedichten Kalékos (oder Dotas Vertonungen) Ausschau halten.


    Fazit: Eine Roman-Biografie, an die man literarisch keine großen Ansprüche stellen darf, die aber mir das Berliner Leben und vor allem das Werk Mascha Kalékos wunderbar nahe gebracht haben. Von daher vergebe ich gern acht Eulenpunkte (von zehn).

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Für mich sind solche Romanbiographien "Appetithappen" - mit der Option, sich mit der porträtierten Person näher zu beschäftigen, wenn sie einen interessiert.

    Ich hab jetzt, nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, einiges an Material über Mascha Kaléko hier rumstehen und warte drauf, dass ich auch dazu komme, es zu lesen.


    Das hab ich gemeint. Sorry, wenn das nicht eindeutig rüberkam.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Das hab ich gemeint. Sorry, wenn das nicht eindeutig rüberkam.

    Doch, das kam so rüber - genau so habe ich es verstanden :wave. Deshalb habe ich ja geschrieben, ich verwende die "Option auf mehr" in einem anderen Zusammenhang, da ich auf die Gedichte Kalékos im Buch rauswollte.


    Ich kann gut verstehen, dass du inspiriert wurdest, dich näher mit Masch Kaléko zu beschäftigen. Die in Literaturverzeichnis erwähnte Rosenkranz-Biografie soll sehr gut sein. Wir haben das Buch im Lesekreis gelesen und da schwärmte eine Teilnehmerin sehr davon. Ich wollte es mir schon fast von ihr ausleihen - habe es im Gedanken an den SUB aber doch lieber gelassen. ^^

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021