Buchpremiere Die Krume Brot von Lukas Bärfuss im LCB

  • Mehr als zwanzig Jahre nachdem ich am selben Ort Haruki Murakami gesehen habe, zog es mich ein zweites Mal ins Literarische Colloquium am Wannsee in Berlin, vermutlich wohl der schönste Ort, an dem man Lesungen abhalten kann. Der Saal wirkte etwas kleiner als damals, aber in der Vergangenheit ist ja alles immer ein wenig größer. Ich war sehr früh dort, eigentlich wollte ich ja noch am Wannsee entlang wandern, aber es war - entschuldigt meine Ausdrucksweise - gestern einfach scheißkalt.


    Von Lukas Bärfuss liebe ich vor allem seinen Roman Hagard und tatsächlich gibt es einen weiteren Berlin-Bezug und zwar habe ich eine Aufführung seines Theaterstücks Öl in Berlin gesehen. Ich mag auch seine Auftritte z.B. beim Literaturclub. Er ist einfach ein kluger und witziger Mensch, was er auch bei dieser Lesung wieder bewiesen hat. Das neue Buch von ihm, das erste einer Trilogie ist aber weniger witzig: Arbeitermileau und Armut (das kennt Bärfuss, der aus prekären Verhältnissen stammt und keinen Schulabschluss hat), alleinerziehende Mutter... Ich muss zugeben, dass ich noch nicht sicher bin, ob ich den Roman überhaupt lesen möchte, aber die Lesepassagen waren stark und eindringlich.


    Aber was diese Lesung so einmalig gemacht hat, war die Moderatorin. Oh, mein Gott... Sie hatte den Autor, die Verlagsvertreter und vor allem auch das Publikum zum Verzweifeln gebracht.


    - Das ist ihr was? vierter Roman?

    - Sie wissen doch, mit Mathematik habe ich es nicht so.

    - Ja genau, lassen sie uns doch über den Fehler in ihrem Roman sprechen...


    ... den sie dann nicht erklärt, aber offenbar hat ein Rezensent der Neuen Züricher Zeitung irgendeinen Fehler in der Chronologie des Romans gefunden (ich habe dann nachgeforscht, nach dessen Berechnung hat die Protagonistin mit 10 ihr Kind geboren). Die NZZ-Rezension war im übrigen ein übler Verriss. Also ein perfekter Opener für ein Gesprach, aber Bärfuss kontert originell und gewitzt.


    Die Moderatorin meint Bärfuss kann ja nichts für den Fehler, aber ein Lektor hätte das doch entdecken müssen. Böse Blicke von den Verlagsvertretern (Rowohlt) von den reservierten Plätzen.


    Dann spricht die Moderatorin über ihre Erfahrung in der Jury für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017. Hagard war nominiert. Die anderen Jury-Mitglieder hätten den Roman ja so furchtbar kulturpessimistisch gefunden.


    Dann nach mehr als einer halben Stunde vielleicht, eigentlich weiß ich bisher über den Roman der gerade Buchpremiere hat überhaupt nichts, möchte Bärfuss dann lesen, aber ab Seite 50. Die Moderatorin bittet (eher nötigt) Bärfuss die ersten 50 Seiten zusammenzufassen. Das ist Bärfuss irgendwie unangenehm (er möchte lesen, nicht nacherzählen), aber er tut wie verlangt. Die Zusammenfassung war der Moderatorin aber nicht ausführlich genug und sie fügt dann noch zehn Minuten Nacherzählung hinzu... inzwischen weiß ich alles über die ersten 50 Seiten. Die brauche ich auch nicht mehr lesen. Hinter mir lacht jemand laut, während die Moderatorin erzählt und erzählt.


    Bärfuss wird ganz langsam dann doch etwas bissig. Habe den genauen Wortlaut nicht mehr, aber bevor er mit seiner Lesung beginnt, meint er, dass es etwas mit Respekt zu tun hätte, die Zeit des Publikums nicht zu vergeuden. Spoiler: leider versteht die Moderatorin den Wink nicht und wird später gleichbleibend verpeilt weiter moderieren.


    Nach der Lesung dieses Teils dann weitere Diskussionen, in deren Verlauf deutlich wird, dass die Moderatorin ein Detail in der Erzählperspektive komplett missverstanden hat. Bärfuss erklärt, wie es gemeint war. Im Publikum ist man sich einig: das konnte man eigentlich nicht missverstehen. Die Moderatorin lässt nicht locker. Also wenn man das Wort "sie" vielleicht etwas an das Ende des Satzes verschoben worden wäre, aber so... Zehn Minuten Ping-Pong zu diesem einen Detail. Bärfuss verteidigt sich und seinen Lektor und das Publikum entwickelt langsam Moderatorinnen-Hassgefühle (in einem Fußballstadion wären inzwischen Bierbecher geflogen, aber man will ja nicht mit Weingläsern schmeißen). Aber wieder findet Bärfuss den richtigen und witzigen Dreh:


    "Ich muß ihre Position aber wirklich verteidigen. Es ist nun einmal das Geheimnis großer Literatur, dass man wirklich jedes Wort aus zwei Blickwinkeln betrachten kann."


    Nach anderthalb Stunden (ich bin mir inzwischen sicher, dass diese Lesung mindestens vier Stunden andauern wird) fragt die Moderatorin Bärfuss, ob er noch etwas lesen möchte. Dieser, gefühlt wie bei einem Stoßgebet nach oben blickend: "Ja, gerne, oh mein Gott, ja!" Das Publikum applaudiert.


    Nach der Lesung geht es dann mit der Diskussion weiter (es muss ja auch noch jedes letzte Detail des Romans erklärt werden. Gerne werden auch immer wieder Punkte aus schlechten Kritiken erwähnt, die die Moderatorin ja so überhaupt nicht verstehen kann). Und irgendwann weist die Moderatorin dann darauf hin, dass sie ja überhaupt kein Gefühl für die Zeit hätte (ach was, wirklich?), man sie aber darum gebeten hätte, noch Fragen aus dem Publikum zuzulassen. Das Publikum ist gnädig und schweigt. Bärfuss bedankt sich bei der Moderatorin und freut sich bereits auf die nächste gemeinsame Buchpremiere. In der Signierschlange, endlich ohne Moderatorin, gibt es noch nette Interaktionen zwischen Autor und Publikum und ich fahre zufrieden aber auch kopfschüttelnd mit einem signierten Exemplar von Hagard zurück ins Hotel.


    ASIN/ISBN: 3498003208