60 Kilo Kinnhaken - Hallgrímur Helgason

  • 60 Kilo Kinnhaken

    Hallgrímur Helgason

    Übersetzer: Karl-Ludwig Wetzig

    Herausgeber: Tropen

    ISBN: 978-3608501841

    672 Seiten, 26 Euro



    Als 2020 der Vorgänger zu diesem Buch erschien, war „60 Kilo Sonnenschein“ mein absolutes Jahreshighlight und so konnte ich es fast nicht abwarten, den Nachfolger endlich lesen zu können. Vorab, man kann „60 Kilo Kinnhaken“ sicherlich auch ohne den ersten Band zu kennen, lesen und verstehen, aber man würde sich um sehr viel Lesevergnügen und Kenntnisse rund um den kleinen, fiktiven isländischen Fjord Segulfjörður und seine Bewohner bringen.


    Gestur, den wir im ersten Band beim Aufwachsen begleiten durften, ist nun endlich 18 Jahre alt und strotzt nur so vor Männlichkeit. An Gelegenheiten und Frauenbekanntschaften mangelt es nur am Anfang, doch dann hat er die Qual der Wahl, ob er die richtige Frau für sich finden wird?


    Er arbeitet in der neu errichteten Fischfabrik, verkauft das Lawinen-Grundstück seines Ziehvaters und ahnt bald, dass er übers Ohr gehauen wurde. Der kleine Ort am Fjord hat sich inzwischen zu einer Art El Dorado für norwegische Heringsfischer entwickelt und ist zur Saison abendlich Schauplatz legendärer Besäufnisse und Prügeleien geworden. Nur das mit dem Fortschritt und der Technik läuft schleppend. Für das erste Auto, das mit viel Mühen an Land gebracht wird, gibt es keine Straßen und bei einer Probefahrt landet es auf einem Hausdach. Der Bau einer Telegrafenstation scheitert erst einmal an Konkurrenzdenken und den Ewiggestrigen in der Verwaltung. Und dann verpasst das Schicksal dem ganzen Treiben einen Kinnhaken…


    Auch dieses Buch hat mich wieder faszinieren können. Es ist einfach grandios, wie der Autor selbst aus kleinen und belanglosen Szenen ganz großes Kino machen kann. Sein Humor ist herrlich und manchmal ziemlich böse. Seine Lust an der Beschreibung unappetitlicher Sachen lebt er ungeniert aus und zartbesaitete Leser könnte so etwas verstören, aber die würden sowieso geschockt sein von dem Treiben in dem kleinen Ort. Der Autor lässt seine Figuren schon fast schadenfroh immer wieder scheitern, legt ihnen oft (zu) große Hindernisse vor die Füße und schildert sie doch so warmherzig und menschlich, dass man große und kleine Fehler der einzelnen Personen nicht übel nimmt. Man verfolgt den Lebensweg von Gestur, der eng mit dem Fjord und seinen Bewohnern verknüpft ist und erlebt so den Wandel der Zeiten mit.


    Mein Fazit: Dieses Buch ist ein sprachliches Meisterwerk mit schillerndem, teilweise tiefschwarzem Humor, es ist grandios und absolut lesenswert und für mich das Jahreshighlight 2023.


    ASIN/ISBN: 3608501843

    ISBN13 durch ISBN10 ersetzt. Gruß Herr Palomar

  • Denis Scheck hat Recht

    Denis Scheck hat wieder einmal Recht. Hallgrimur Helgason und sein Übersetzer Karl-Ludwig Wotzig haben ein großartiges Buch geschrieben, respektive meisterhaft ins Deutsche übersetzt. Die Sprachbilder haben es in sich. Allein den Autor mit einer allwissenden Eule gleichzusetzen ist einmalig. Oder einen Hund Papa zu nennen, damit der Waisenjunge wenigstens jemanden hat, zu dem er Papa sagen kann, ist umwerfend. Diese fast schon surrealen Sprachbilder ziehen sich durch das ganze Buch fort, irgendwann sind sie dermaßen in das Gesamtkunstwerk eingefügt, das sie einem kaum noch auffallen. Obwohl, Gesturs Aussage, er würde nur zwei Mal im Jahr baden und das bei seinem sehr aktiven Liebesleben hat mich tief einatmen lassen. Aber erst nachdem ich die Nase aus dem Buch draußen hatte. Das olfaktive Kopfkino startete durch in meinem Kopf.

    Das Buch wirkt wie eine Momentaufnahme der isländischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit seinen Isländern, Dänen und Norwegern, mit seiner Bescheidenheit und Exzessen, mit seinem Reichtum für einige wenige und mit der bitteren Armut der meisten Isländer. Das pralle Leben schlägt einem auf jeder Seite entgegen. Die Katastrophe die sich am Ende des Buches ereignet gehört auch zu Island, als Teil der großartigen Natur dieser einzigartigen Insel.

    Ja, Dennis Scheck hatte Recht.