Mark Twain - Briefe von der Erde

  • Dies ist eine Sammlung von Texten aus Mark Twains Nachlass, die erst 1963, gut fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors, erscheinen konnte. Sein literarischer Nachlassverwalter Bernard DeVoto hatte die Herausgabe schon Jahrzehnte davor geplant, doch von Clara Clemens, Tochter des Autors und Inhaberin der Rechte, keine Genehmigung erhalten. Dies gelang erst seinem Nachfolger. Clara Clemens mag gute und weniger gute Gründe für ihr Zögern gehabt haben. Insgesamt handelt es sich um eine sowohl inhaltlich wie qualitativ sehr heterogene Sammlung, die zwar die Neugier der Kenner anregen, doch das literarische Prestige ihres Vaters nicht unbedingt stärken konnte. Außerdem dürfte die Tochter des Dichters mit vielen religionskritischen Passagen keineswegs einverstanden gewesen sein. Ironie der Literaturgeschichte: Ausgerechnet ein Kind Mark Twains schloss sich der Christian Science an. Schließlich soll der Kalte Krieg um 1960 den Ausschlag für die Publikation gegeben haben. Durch sie wurde sowjetischer Propaganda, die im Zurückhalten systembedingte Zensur sah, der Boden entzogen.


    Die Gesammelten Werke bei Hanser in deutscher Übersetzung änderten die Reihung der Einzeltexte. Ihr folgen wir und lesen zuerst „Die Briefe Satans“, eine etwas unbefriedigende Ouvertüre. Mark Twain übt hier Religionskritik mit den Mitteln einer einfachen Kurzgeschichte, deren Konstruktion jedoch nicht trägt. So wird Satan nach vielversprechendem Anfang des Textes zur Strafe auf die Erde gesandt und soll dem Himmel in Briefen berichten, wie sich die Menschheit denn anlässt – nur dass diese Epistel allzu deutlich Tiraden des alten, verbitterten Menschen Mark Twain sind. Da ist weder satanischer Witz noch satanischer Standpunkt. Man will den Band schon fortlegen und beginnt dann doch mit dem nächsten Text: „Aus den Papieren der Sippe Adam“. Das erweist sich schnell als genialer Mix aus biblischer Geschichte und aktueller Zeitkritik, leider im Verlauf etwas überladen, bis einen der gelungene Schlussteil wieder versöhnt. Kostprobe von den toll-satirischen Einfällen: Eva schildert sich und Adam in ihrer Autobiographie als die ersten Naturforscher überhaupt. Während Adam die umwälzende Entdeckung macht, dass Wasser bergab fließt, findet Eva heraus, wie die Milch in die Kuh kommt – sie nimmt sie aus der Luft mit dem Fell auf. Flaubert, der Vater von „Bouvard und Pécuchet“, lacht darüber im literarischen Himmel.


    Als ein zupackender und –beißender Literaturkritiker erweist sich Mark Twain in zwei Abrechungen mit Cooper, lehrreich noch heute. Ich kann hier nicht alle fünfzehn Texte vorstellen, nur eine Auswahl. Die „Beiträge zu Fragen der Etikette“ sind boshaft amüsant und verspielt, wie von einem Urahn Tucholskys geschrieben. Unangenehm fiel mir wegen seiner extremen Einseitigkeit und primitiven Frankophobie „Die Franzosen und die Komantschen“ auf. „Die verdammte Menschenrasse“ hat mich beim Lesen viele sachliche Einwände notieren lassen, die ich, um ihn nicht zu ermüden, dem Leser hier erspare. Rundum gelungen scheint mir dagegen die lange Geschichte „Die große Finsternis“, eine surrealistische Reise, die mit einem Wassertropfen unter einem Mikroskop beginnt, dann auf ein unbekanntes und unendliches Meer hinausführt, auf dem keine Naturgesetze mehr gelten und es keine Orientierung gibt. Der Schluss erinnert an Dürrenmatts „Der Tunnel“, nur dass es hier gemüthafter ausgeht. Das Schiff rast zwar wie jener Zug nach unerklärlicher, grauenhafter Fahrt auch auf Gott oder die Ewigkeit zu, doch ein Seebär von altem Kapitän hebt in letzter Minute die Moral der meuternden Mannschaft – ernst gemeint oder Parodie oder sonst etwas?


    Als Rausschmeißer kommt dann noch ein „Brief an die Erde“, etwas Leichtfüßig-Satirisches. Ein in der Himmelsbürokratie angestellter Engel geht Punkt für Punkt auf die sehr irdischen Gebete eines Kohlenhändlers ein. Das klingt wiederum Zeile für Zeile nach Tucholsky, so dass man sich erinnern muss, wer vor wem gelebt hat und dass der Jüngere diesen Text des Älteren nicht gekannt haben kann. Freilich – wenn Autoren erst mal tot sind, gibt es kein Älter oder Jünger mehr. Nur an ihren Texten erweist sich, ob diese sich frisch erhalten haben. Für vieles von Mark Twain und für manches aus dieser Sammlung gilt das bis heute.