Zadie Smith - Betrug


  • Klappentext:


    Ein Hochstapler wird im viktorianischen London zum Medienstar – und zur Galionsfigur für die Unterprivilegierten. In ihrem ersten historischen Roman erzählt Zadie Smith von einem der bekanntesten Gerichtsfälle Englands, der Arm und Reich gegeneinander aufbrachte.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Lethe heißt der Strom des Vergessens – und genau das ist der gefährlichste Strom“, sagte Florian Illies in seiner Preisrede zur Verleihung des Ehrenpreises des Bayerischen Ministerpräsidenten. Es sei für jede Generation wichtig, in die „Stromschnellen der Geschichte“ einzutauchen, auch wenn sie unübersichtlich sind, denn jede Gegenwart sei zugleich „eine Ruine der Zukunft“. Er mahnte die Erinnerung an, weil alle Zeiten miteinander verwoben sind und warnte vor der Geschichtsvergessenheit. Wie Recht er hat!


    Und genau das, das Eintauchen in die Stromschnellen der Geschichte und das Verweben der Zeiten, genau das gelingt Zadie Smith in diesem Roman auf eine unglaublich leichte und unterhaltsame Art und Weise. Sie holt Vergangenes nach oben, sie belebt die Geschichte und legt damit den Finger auf die fauligen Stellen der Gegenwart.


    Ein historischer Roman? Das ist dieser Roman nur vordergründig. Es geht um einen historischen Prozess, der 1866 im viktorianischen Zeitalter Englands spielt: ja, das schon. Aber dieser Prozess ist eigentlich nur das Kaleidoskop, durch das die Autorin gesellschaftliche Entwicklungen und Bewegungen heranzoomt, die bis heute wirksam und nicht abgeschlossen sind.


    Das Cover und auch der Titel geben schon Hinweise. Zwei Männer stehen zwischen silbernen Löffeln. Der eine – Tichborne - wurde schon mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren, und der andere eben nicht. Und dieser andere ist es, der seinen Teil vom Kuchen einfordert und dabei auch zum Mittel des Betruges greift. Tichborne, Sohn aus altem englischen Adel, war vor Jahren wegen einer inakzeptablen Liebesgeschichte mit seiner Kusine zum Kolonialbesitz der Familie nach Jamaika geschickt worden. Er war nie angekommen; vermutlich war er bei einem Schiffsunglück umgekommen.

    Der Mann, der nun behauptet, Tichborne zu sein und sein Erbe einfordert, hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem gebildeten jungen Engländer, aber er hat einen Zeugen, der seine Identität bestätigt. Dieser Zeuge Andrew Bogle wird zu einer der Hauptfiguren des Romans: ein freigelassener Sklave aus den Zuckerrohrplantagen Jamaikas, der die Schrecklichkeiten der Rechtlosigkeit kennt, aber immer ruhig und beeindruckend würdevoll auftritt.

    Wieso lügt Bogle? Der Prozess fand enormen Widerhall in den unteren Klassen. Wieso engagieren sich die unteren Schichten so leidenschaftlich für einen offensichtlichen Betrüger?


    Dieser Frage geht Zadie Smith mit einem bunten Figurenreigen nach, aus denen zwei herausstechen. Einmal ist das die reale Figur des Schriftstellers William Ainsworth, der nach großen Anfangserfolgen in trivialen historischen Romanen versinkt – genau das, was die Autorin eben nicht will. Neben ihm steht seine Kusine Eliza, eine freiheitsliebende Schottin, die bei aller Aufgeschlossenheit immer im Denken ihrer Klasse gefangen bleibt und aus deren Sicht wir die Komödie des Prozesses erleben.


    Es geht hauptsächlich um die Frage der Gerechtigkeit, daher auch das Thema eines Gerichtsverfahrens. Diese Frage wird verknüpft mit dem Problem der persönlichen Unfreiheit, und auch dieses Thema wird mehrfach aufgefächert in Abolitionismus, in weibliche Selbstbestimmung u. a. Einen zweiten wichtigen Verknüpfungspunkt sehe ich in dem, was wir heute Pauperismus nennen: der unverschuldeten Armut, die der Betroffene nicht selber ändern kann. Auch diesen Punkt fächert die Autorin auf und lässt in der Handlung verschiedene soziale Unruhen der Vergangenheit und der erzählten Zeit anklingen und Gesetze, die die Reichen reicher und die Armen weiter ärmer gemacht haben.


    Sie klagt niemals an, sie berichtet nur, aber dennoch wird die nach wie vor ungebrochene Macht der alten privilegierten Schichten deutlich.


    Und genau hier liegt auch der eigentliche Grund für den Prozess: da fordert einer der dauerhaft und chancenlos Entrechteten Gerechtigkeit ein. Der Versuch misslingt, der „Überbau“, wie Marx es nennen würde, ist mächtiger. Er wird wegen Betrug verurteilt.


    Der Betrug liegt aber nicht im Betrugsversuch eines Einzelnen, sondern hier sind ganze Generationen betrogen worden: um ihre persönliche Freiheit, um den wirtschaftlichen Lohn ihrer Arbeit und um beides.


    Das Buch ist nicht leicht zu lesen. Die Autorin zerhackt die Handlung in unzählige kleinere Kapitel Vermutlich will sie damit die Erscheinungsweise der viktorianischen Romane als Fortsetzungsromane imitieren. Aber diese ständigen Sprünge zwischen den Zeiten, den Personen und den Schauplätzen, die Vielzahl an Querverbindungen fordern den Leser heraus. Auf der anderen Seite verleiht die Autorin den erzählten Fragen damit aktuelles Leben. Ob das der zementierte Gegensatz Arm-Reich ist, Ausbeutung im weitesten Sinn, Menschenrechte, Frauenbild, Rollenzuschreibungen, Fake News, Populismus etc. – alles hat einen Bezug zu heute.


    Und der Leser erkennt, dass die erzählten Probleme nicht in den gefährlichen Fluss Lethe gefallen sind, sondern nach wie vor existieren. Und Zadie Smith legt leicht und elegant ihren Finger darauf.


    09/10 P.


    ASIN/ISBN: 3462005448