Martina Clavadetscher - Die Schrecken der anderen

  • Das Leben ist ein langes Heute (S. 236)

    Ein Titelbild wie ein Stillleben altflämischer Meister, wenn der Vogelkopf nicht aus dem Rahmen hängen würde, und dadurch stutzig macht. Die Handlung beginnt zunächst gradlinig: ein Junge entdeckt in einem winterlich zugefrorenen See beim Eislaufen eine Leiche, ein Polizist bittet einen befreundeten Archivar auf den See hinaus zu gehen und die Meldung zu überprüfen und zu bestätigen, ob es sich tatsächlich um einen toten Menschen handelt. Ab jetzt teilt sich die Handlung in zwei parallel verlaufenden Strängen: einerseits der Archivar und sein Kreis, hauptsächlich bestehend aus Rosa, einer alten Frau die in einem Wohnwagen unweit des Ufers des Sees lebt, und dem Archivar Schibig selbst, mit Episoden artigen Auftritten anderer, wie da wären Boll oder die Tochter der alten Frau.

    Und andererseits Kern, reich, verheiratet mit Hanna, und Sohn der fast hundertjährigen Frau Kern-Kübler, die ihrerseits tief in die Machenschaften ihres Vaters verstrickt ist. Der Vater, einstiger Großbauer, hatte sich mit den Nazis aus dem Nachbarland eingelassen und kam so zu Reichtum und vermehrte den nach den Krieg weiter, hielt die Gesinnungsfahne hoch, verkehrte in den rechten Kreisen und seine Tochter ebenso. Kern selbst möchte das nicht, fühlt sich machtlos, sowohl der alles bestimmenden Mutter gegenüber als auch den gesellschaftlichen Kreisen, in denen er dank seiner Position verkehren muss.

    Wenn’s um Geld geht, hört die Neutralität auf. Die Schweiz hat sich ihre Neutralität schwer bezahlen lassen. Flüchtende Juden, denen in Deutschland der Tod drohte, mussten schweres Geld für sich und ihre Familienangehörigen zahlen, um aufgenommen zu werden. Die Investitionen der reichen Nazigrößen in der Schweiz wurden gerne und ohne Fragen angenommen und getätigt, wie auch die Gelder der Potentaten und Despoten nach dem zweiten Weltkrieg. Ceausescu hatte hier geheime Konten, Imelda und Ferdinand Marcos, Putin und seine Oligarchen, arabische Machthaber, Die Liste ist endlos. Banken und Wirtschaft sind eng miteinander verzahnt. Der Rubel muss rollen.

    Es ist diese unerwartete Offenlegung einer bisher totgeschwiegenen Vergangenheit und ihre Fortführung in der Gegenwart, die uns überrascht. Die Greisin hält die Zügel fest in der Hand, terrorisiert ihren Sohn und Schwiegertochter, lästert über ihre Pflegerin, doch es steckt viel mehr dahinter, sie hat finstere Pläne.

    Am Ende des Romans sagt Rosa zu Schibig: “- Und jetzt machst du ohne mich weiter, erfinde dich neu, lebe und liebe im Jetzt" (S. 326), um mit der Vergangenheit abzuschließen. “- Das Leben ist ein langes Heute. Und seine vielen Möglichkeiten sind das Schönste daran. Reise, Schibig, und verlieb dich, ja, verlieb dich! Das ist sowieso zu empfehlen, sooft und solange man nur kann,” (S. 326)

    Clavadetscher offenbart viel, indem sie es nicht ausspricht. Wir verfolgen teilweise den inneren Monolog einiger Gestalten, der manchmal Züge des Bewusstseinsstroms annimmt. Das erlaubt uns, näher an diese Personen zu kommen, sie besser zu verstehen.

    Die zwei Handlungsstränge vereinigen sich nicht wirklich im Roman. Es gibt ein paar punktuelle Berührungen, die uns das ganze Ausmaß des Ungesagten erahnen lassen, aber es gibt am Ende keinen großen gemeinsamen Fluss. Die Welten der Protagonisten sind zu verschieden, um zusammenkommen zu können, und das ist gut so.

    War und ist die Schweiz wirklich so neutral, wie sie immer tut?


    ASIN/ISBN: 3406836984

  • na ja, hast Du es schon gelesen, Herr Palomar? Der Mord geschieht zwar in der Gegenwart, aber die Ursachen und Gründe des Mordes reichen weit zurück in eine unrühmliche Zeit der Schweizer Geschichte. Damals hatten die Eidgenossen ein sehr ambivalentes Verhältnis zu dem NS Regime aus Berlin.

    Also, wie Du meinst, zeitgenössisch ist auch OK.