Kim von Rudyard Kipling

  • Kim tanzte vor Ungeduld, als der schlanke junge Kayeth in Sicht kam. Sobald seine Stimme ihn erreichen konnte, beschimpfte er ihn wortreich.
    „Zuerst will ich mein Geld“, sagte der Briefschreiber. „Schlimme Wörter haben den Preis erhöht. Aber wer bist du, dass du in dieser Art Kleidung diese Art Reden führst?“
    „Aha! Das Steht in dem Brief, den du schreiben sollst. Solch eine Geschichte hat es noch nie gegeben. Aber ich hab es nicht eilig. Ein anderer Schreiber tut es auch. Ambala ist genau so voll von ihnen wie Lahore.“
    „Vier Annas“, sagte der Schreiber; er setzte sich und breitete sein Tuch im Schatten eines verlassenen Kasernenflügels aus. Mechanisch hockte Kim sich neben ihn - hockte, wie nur die Eingeborenen hocken können -, trotz der widerlich engen Hosen.
    Der Schreiber schaute ihn von der Seite an.
    „Das ist der Preis, den man von Sahibs verlangt“, sagte Kim. „Jetzt mach mir einen richtigen.“
    „Anderthalb Annas. Wie soll ich sicher sein, dass du nicht wegrennst, wenn ich den Brief geschrieben habe?“
    „Ich darf nur bis zu diesem Baum, und dann ist da noch die Marke zu bedenken.“
    „Vom Preis der Marke bekomme ich keine Provision. Noch einmal, was für eine Art von weißem Jungen bist du?“
    „Das wird in dem Brief gesagt werden, der an Mahbub Ali gerichtet ist, den Pferdehändler im Kaschmir-Serai, in Lahore. Er ist mein Freund.“
    „Wunder über Wunder!“ murmelte der Briefschreiber; er tunkte eine Rohrfeder ins Tintenfass. „Soll es auf Hindi geschrieben werden?“
    „Natürlich. An Mahbub Ali also. Fang an! Ich bin mit dem alten Mann bis Ambala im Zug gefahren. In Ambala habe ich die Nachricht vom Stammbaum der braunen Stute überbracht.“ Nach allem, was er im Garten gesehen hatte, dachte er nicht daran, von weißen Hengsten zu schreiben.
    „Ein bisschen langsamer. Was hat eine braune Stute zu tun mit ... Ist das Mahbub Ali, der große Handelsherr?“
    „Wer sonst? Ich war in seinem Dienst. Nimm mehr Tinte. Weiter. Wie der Befehl war, so habe ich getan. Wir sind dann zu Fuß in Richtung Benares gegangen, aber am dritten Tag begegneten wir einem bestimmten Regiment. Hast du das?“
    „Ja; pulton“, murmelte der Schreiber, ganz Ohr.
    Ich ging in ihr Lager und wurde gefangen, und durch den Zauber an meinem Hals, wovon du weißt, wurde erwiesen, dass ich der Sohn eines Mannes aus diesem Regiment bin: gemäß der Prophezeiung vom Roten Stier, die, wie du weißt, in unserem Basar wohlbekannt war.
    Kim wartete, bis der Schaft dieses Pfeils ins Herz des Briefschreibers gedrungen war, räusperte sich und fuhr fort: „Ein Priester hat mich gekleidet und mir einen neuen Namen gegeben. Einer der Priester war aber ein Narr. Die Kleider sind sehr schwer, aber ich bin ein Sahib und auch mein Herz ist schwer. Sie schicken mich in eine Schule und schlagen mich. Ich mag Luft und Wasser hier nicht. Komm denn also und hilf mir, Mahbub Ali, oder schick mir ein wenig Geld, denn ich habe nicht genug, um den Schreiber zu bezahlen, der dies schreibt.“
    ‚Der dies schreibt.’ Es ist mein eigener Fehler, dass ich mich habe betrügen lassen. Du bist gerissen wie Husain Bux, der die Stempel des Schatzamts von Nucklao gefälscht hat. Aber was für eine Geschichte! Was für eine Geschichte! Ist sie am Ende auch noch wahr?“


    Ja, dies ist wirklich die Geschichte Kims, des Straßenjungen aus Lahore, des kleinen Freunds der ganzen Welt. Wie er als Chela des Lamas reist, wie er drei lange Jahre Schüler einer Sahib-Schule wird, ehe er aufbricht, um dem Empire auf seine ganz eigene Art zu dienen, im "Großen Spiel", dem geheimen Ringen der Kolonialmächte Russland und Großbrittanien über die Vorherrschaft in Asien.


    Über den Autor:
    Rudyard Kipling, englischer Dichter, wurde am 30. Dezember 1865 in Bombay geboren und starb am 18. Januar 1936 in London. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Indien, kam dann nach England und unternahm später Reisen in alle Weltteile.
    Im Jahre 1907 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Er veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte; am bekanntesten wurden die Tiergeschichten der beiden "Dschungelbücher" und der Roman "Kim" (1901).


    Zum Roman:
    1957, Indien ist zehn Jahre unabhängig, nennt der indische Literaturwissenschaftler Chaudhuri Kim „den besten englischsprachigen Roman über Indien“, und weiter: „Kipling hat die größte Realität Indiens begriffen, die aus dem Leben der Menschen und der Religionen in der Doppelszenerie der Berge und Ebenen besteht. Diese vier sind die wichtigsten und wirklichsten Charaktere in Kim.“
    Mark Twain schreibt 1922: „Ich glaube, es war die Reise nach Indien wert, um mich dafür zu qualifizieren, Kim verstehend zu lesen und zu begreifen, welch ein großartiges Buch es ist. Der tiefe und subtile und faszinierende Zauber Indiens durchtränkt kein anderes Buch so, wie er Kim durchtränkt ... Ich lese das Buch jedes Jahr von neuem.“


    Eigene Meinung: :write
    Ich habe „Kim“ vielleicht zwei Jahre nach Hesses „Siddharta“ gelesen, und ich habe das letztere Buch seitdem nie wieder angefasst, den „Kim“ aber mindestens noch zweimal gelesen. Hesses Indien ist die Tapete für seine Hauptfiguren, in Kiplings Indien pulsiert das Leben bis in die kleinste Nebenfigur, wie jenem Schreiber in der Leseprobe. Der Gesamtplot ist eigentlich einfach: Kim erlebt dieses und jenes nacheinander, aber die Art und Weise, wie es erzählt wird, nimmt dich komplett gefangen, und dieses plastische, lebendige Indien ... irgendwann werde ich es Twain nachtun, und wenn ich Indien besuche, werde ich den Kim im Original lesen ... das wird ein Traum.


    :-) Solltet Ihr "Kim" auf Deutsch lesen wollen, besorgt euch bitte keine der Ausgaben von DTV bzw. List, sondern seht zu, dass ihr eine Haffmans-Ausgabe, übersetzt von Gisbert Haefs, bekommt. Die sind sehr gut redigiert und mit Liebe zum Detail (und zu Kipling) übersetzt, während die bei List/DTV verwendete Übersetzung von 1925 doch schon einigen Staub angesetzt hat.


    :wave
    GleichSamm

    Ein Buch zu öffnen, meint auch zu verreisen.
    Heißt mehr noch: sich auf Neuland vorzuwagen.
    Ob seine Worte brechen oder tragen,
    muss sich beim Lesen Satz für Satz erweisen.

    (Robert Gernhardt)