'Werte' - Nation und Union

  • Im abschließenden Kapitel Nation und Union verfolgt man den Weg der europäischen Idee zu einer stetig wachsenden Staatengemeinschaft, worüber ich mich sehr gefreut habe, weil ich zwar die Schlagworte kannte, nicht jedoch die dahinterstehenden Konzepte im Zusammenhang.


    Vorab noch eine Anmerkung zu dem Text von Kleist, in dem ich über einen Satz gestolpert bin, nämlich „Warum liebst du Deutschland?“ – „Weil es mein Vaterland ist“. Im ersten Moment neigt man dazu, zu stutzen und zu rufen, das ist aber keine Antwort, womit hat denn ein Land eine solche Zuneigung verdient? Wenn man Deutschland als sein „Vaterland“ liebt, dann ist man womöglich sogar stolz darauf? Und schon kommt ein ungutes Gefühl auf. Mir ist die Liebe zu Deutschland nicht so präsent und doch kann ich nach längerem Nachdenken die Antwort oben verstehen. Das Land, in dem man aufwächst, verhält sich so ähnlich wie die Eltern. Man benötigt keine Leistungen, keine Verdienste, an denen man die Zuneigung ihnen gegenüber festmachen muss. Man fühlt sich ihnen einfach so zugehörig, geborgen, möglicherweise auch, weil alles bekannt und gewohnt ist. So verstehe ich jetzt die Antwort oben, auch wenn ich sie selbst nie so gegeben hätte.


    Alle anderen Texte verstehe ich als Markierungen auf dem Weg zu einem geeinten Europa, auf dem wir uns heute befinden.


    Valéry
    betont die Gemeinsamkeiten Europas, die vor allem aus drei großen Einflüssen bestehen, denen alle Länder Europas gleichermaßen ausgesetzt waren : 1. das römische Reich, 2. das Christentum und 3. das antike Griechenland – alle drei Einflüsse schufen einen Wertekomplex, aus dem sich vieles, was für uns heute Europa ausmacht, entwickelt hat.
    Nur am Rande, aber sehr interessant und sicher alleine für sich schon diskussionswürdig ist ein Satz auf S. 706: „Es ist nicht Europa, das den Sieg davonträgt, sondern der europäische Geist, zu dessen furchterregenden Schöpfungen Amerika gehört“.


    von Coudenhouve-Kalergi
    Er sieht die Gemeinschaft Europas vor allem als Schutz gegenüber drohenden Gefahren wie einem Krieg im Inneren, der Eroberung durch Russland (man beachte die Entstehungszeit dieses Textes!) und der wirtschaftliche Ruin. Nur durch den Zusammenschluss der demokratischen Staaten Europas können diese Gefahren abgewendet werden und er nennt sogar konkrete Gremien und Bündnisse, die dies im Einzelnen können.


    Mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nimmt die Gestaltung eines gemeinsamen Europas seinen konkreten Anfang, in dem die grundlegenden Werte, die dem neuen Europa zugrunde liegen sollen, benannt werden. Die Römischen Verträge der Europäischen Wirtsgemeinschaft weiten den Willen zu gemeinsamen Handeln auf die Wirtschaft aus, der im Vertrag über die Europäische Union von Maastricht 1994 nicht nur die Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch die Einführung einer Unionsbürgerschaft zum Ziel hat. Mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa 2004 nähern sich die europäischen Staaten auch juristisch an und definieren erneut ihre Ziele und Werte.


    Ein bisschen komisch ist es schon, diese Texte zu lesen, nachdem die gemeinsame Währung schon einige Jahre alt ist. Meinem Empfinden nach spricht aus ihnen ein Aufbruchsgedanke zur Gemeinschaft im positivsten Sinn. Wie lächerlich doch dann die Diskussionen um den („Teuro-„)Euro klingen... (Natürlich kenne ich die Kritik daran, aber dennoch!).


    Auch die Diskussion um neue Mitgliedsstaaten ist stets aktuell, und vor dem Hintergrund dieser Texte möglicherweise zu beurteilen. Es gibt klar definierte Ziele und Werte, die zur Basis der Europäischen Union gehören. „Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ soll allen Mitgliedsstaaten gemeinsam sein – für mich persönlich ist dies eines, wenn nicht überhaupt DAS wichtigste Maß, an dem der Eintritt neuer Mitgliedsstaaten gemessen werden soll.


    Der von Eibl-Eibesfeld zitierte Text und seine Thesen von dem Miteinander trotz oder sogar durch der Beibehaltung von nationalen Unterschieden halte ich für sehr wichtig. Der entscheidende Punkt für eine Staatengemeinschaft ist für ihn wie für de Gaulle nicht die faktische Gleichheit aller, sondern die Achtung und der Respekt gegenüber einander, die zu einer Verbindung führen können.


    Todorov
    verbindet fast die Ideen von Valéry und Eibl-Eibesfeld: Auf gemeinsamen Basis des römischen und christlichen Einflusses ist das heutige Europa entstanden, das die ihm eigene Vielfalt durchaus selbst als Wert hoch schätzt.



    Unser Wertekosmos: Ein dynamisches Koordinatensystem für das Projekt Europa beschließt das Buch und fasst viele der genannten Aspekte noch einmal zusammen, beleuchtet sie aus einer übergeordneten Gesamtperspektive, die einen der wichtigsten Punkte aufgreift, der in der Vergangenheit und in der Zukunft eine Rolle in Europa spielen wird: „Wir und die Anderen“, was mir sehr gut gefallen hat :anbet

  • Ich hoffe, dass dieses finale Kapitel Nation und Union nicht die Summe an Erkenntnissen der vergangenen Werte-Kapitel ergeben soll. Denn sonst habe ich als hoffnungsloser Fall versagt, da mir kaum etwas zusagte. Fiktionale Prosa, die in den vorherigen Kapitel zu manche Erkenntnis verhalf, ist hier Fehlanzeige,


    Wenigstens gibt mir der folgende Abschnitt Unser Wertekosmos von Frank Baasner noch die erhoffte Zusammenfassung und noch einmal viel zum Nachdenken und noch einmal lesen.
    Ein schöner Schluss eines Buches, das man nicht so einfach abhaken kann. :-]

  • Ich habe auch den Text von Baasner als "Zusammenfassung" verstanden und Nation - Union als weiteres (wenn auch eher politisch orientiertes und gegenwartsbezogenes) Kapitel gesehen, vielleicht sowas wie der Praxisbezug: Was wurde konkret aus den europäischen Werten, worin spiegeln sie sich in der großen Politik aktuell wieder?

  • An den Tag des Endspiels um die XII. Fußball-WM kann ich mich auch noch gut erinnern. Ich fuhr nämlich in der selben Nacht auf Klassenreise und mußte mich nachts durch die Konvois zum Bahnhof durchschlagen. :lache


    Den Satz des italienischen Kellners, „Wenn Deutschland gewinnt, freut sich ganz Deutschland. Gewinnt Italien, freut sich ganz Europa“ finde ich eigentlich ein wenig arrogant, wenn ich ehrlich bin.


    Die Verbindung von Nation (den Einzelstaaten) zu einer Union (Europa) scheint sich sehr schwierig zu gestalten. Das kann man andererseits aber gut nachvollziehen: Zu unterschiedlich sind wir bereits in unserem begrenzten Raum Europa. Selbst hier gibt schon ganz unterschiedliche Temperamente von „nordisch-kühl“ bis zum „heißblütigen Südländer“. Dies alles unter einen Hut namens Europa zu bekommen ist eine Aufgabe, die an den altbekannten Sack Flöhe erinnert.


    Keiner möchte sich schließlich aufgeben – jeder möchte seine Identität bewahren und nicht zu einem Einheitsbrei verkommen. Das alles dennoch zu vereinen ist eine sehr spannende Aufgabe, an der wir alle nur wachsen können.


    Kleist
    Die Frage nach dem Vaterland empfand ich ähnlich wie milla: Es ist da, es gehört zu einem wie die eigene Haut... es fordert nichts... es ist einfach da. Wie die Eltern. Doch, das ist eine sehr schöne Deutung. Die gefällt mir.


    Wobei die Texte in diesem letzten Kapitel politischer sind als die vorherigen. Ich habe sie mit Interesse gelesen, aber möchte/kann nicht auf den einzelnen eingehen. Das ist für mich eines der Kapitel, bei denen es mir leichter fällt, "live" darüber zu diskutieren als in Schriftform.


    Ich habe sie aber als Wegweiser zu einem vereinten Europa hin verstanden, als Anleitung und als Anregung, dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren, trotz und vielleicht auch wegen aller Unterschiede. Auf der anderen Seite: gerade die Mischung macht es doch aus. Wie öde wäre die Welt, wären alle Menschen gleich.


    Der Abschluß: Unser Wertekosmos – hier laufen noch einmal alle Fäden zusammen. Ein spannender Abschluß eines überaus interessanten Buches.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Zitat

    Original von Batcat
    Den Satz des italienischen Kellners, „Wenn Deutschland gewinnt, freut sich ganz Deutschland. Gewinnt Italien, freut sich ganz Europa“ finde ich eigentlich ein wenig arrogant, wenn ich ehrlich bin.


    Also ich habe mich letzten Sommer auch nur bedingt gefreut... ;-)