Dave Eggers: "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität"

  • Vor ein paar Jahren tauchten beim amerikanischen Amazon aufgrund eines Softwarefehlers bei solchen Rezensionen, die eigentlich anonym eingestellt worden waren, die Namen der Rezensenten auf. Erstaunt stellte die Literaturgemeinde fest, daß es viele namhafte Autoren gab, die ihre eigenen Bücher euphorisch besprachen - und diejenigen vermeintlicher Konkurrenten abstraften. Zu den Schriftstellern, die dieserart ertappt wurden, gehörte Dave Eggers.


    Daß der Mann das Wort "Understatement" nicht erfunden hat, ahnt man, wenn man den Titel dieses Buches zur Kenntnis genommen hat. Mehr noch: Auf über 230 (!) Seiten Vorbemerkungen und Anhang erklärt der Autor dieser "wahren Geschichte", was man wissen muß, um sein Buch, die Entstehungsgeschichte und alle Hintergründe zu verstehen, und auch Dutzende Seiten mit "Outtakes" gehören dazu. Das ist originell und zuweilen auch ganz amüsant, mit der eigentlichen Sache hat es allerdings wenig zu tun.


    Und das ist folgende: Der zweiundzwanzigjährige Dave und sein acht Jahre alter Bruder Toph verlieren kurz nacheinander beide Elternteile - Krebs. Dave und Toph ziehen von Chicago nach San Francisco, aus dem selbst noch postadoleszenten großen Bruder wird ein alleinerziehender Ersatzvater. Von den Schwierigkeiten, einen Bruder zu erziehen, wenn man selbst noch nicht so recht weiß, worum es im Leben geht, erzählt der Roman. Und davon, wie das mit den Frauen so ist, mit den Freunden, mit dem Coolsein, mit dem Leben in San Francisco und all diesen Sachen. Im weitschweifigen Vorwort heißt es, daß man ab Kapitel vier (ca. Seite 130) eigentlich nicht weiterlesen muß, und das hat in gewisser Hinsicht seine Richtigkeit.


    Schön an diesem Buch ist, daß so vieles nachvollziehbar ist. So schreibt Eggers seitenlang davon, welche Ängste ihn plagen, wenn er seinen Bruder alleine läßt, überhaupt sind Gedankenspiele dieser Art fast bestimmend im zweiten Teil. Aber das ganze ist unglaublich geschwätzig, ironiefrei und schließlich auch sehr langweilig. Toph, die eigentliche Hauptfigur des Romans, tritt mehr und mehr in den Hintergrund, während die Selbstbeweihräucherung des Ich-Erzählers Dave überhand nimmt. Dabei gehen die schönen, melancholischen und auch sehr schlauen Momente des Buches unter, dessen lesbaren Teil man tatsächlich hinter sich hat, wenn man auf Seite 130 angekommen ist.


    Herzzerreißend oder genial ist nichts an diesem Roman. Er ist sehr phantasievoll, manchmal anrührend, häufig pfiffig und zuweilen ironisch. Aber leider ist er auch handlungsarm, schmerzhaft larmoyant und gnadenlos selbstverliebt.

  • Zitat

    Original von Tom
    Vor ein paar Jahren tauchten beim amerikanischen Amazon aufgrund eines Softwarefehlers bei solchen Rezensionen, die eigentlich anonym eingestellt worden waren, die Namen der Rezensenten auf. Erstaunt stellte die Literaturgemeinde fest, daß es viele namhafte Autoren gab, die ihre eigenen Bücher euphorisch besprachen - und diejenigen vermeintlicher Konkurrenten abstraften. Zu den Schriftstellern, die dieserart ertappt wurden, gehörte Dave Eggers.


    Peinlich, peinlich... :lache

  • Titel: Ein herzzerreissendes Werk von umwerfender Genialität
    Autor: Dave Eggers
    Verlag: Kiepenheuer und Witsch
    Erschienen: September 2005
    Seitenzahl: 490
    ISBN-10: 3462036297
    ISBN-13: 978-3462036299
    Preis: 9.90 EUR


    Zum Inhalt sagt der Klappentext:


    Innerhalb weniger Wochen verlieren die Brüder Dave (22 Jahre) und Toph (8 Jahre) Mutter und Vater. In Kalifornien beginnen die Brüder ein neues Leben – und Dave ist plötzlich mehr als nur der große Bruder, nun ist er auch noch „Vater und Mutter“.


    Meine Meinung:


    Dave Eggers gehört ohne Frage zu den besten zeitgenössischen amerikanischen Erzählern. Sein Tempo kann manchmal direkt atemberaubend sein, nie verliert er die Story aus den Augen und genaugenommen wird er auch an keiner Stelle langweilig oder driftet in die Schwafelebene ab. Es passt einfach bei Dave Eggers. Man hat ihn sogar mit J.D. Salinger verglichen und auch David Foster Wallace und David Sedaris zog man zum Vergleich heran. Dave Eggers muss sich hinter nichts und niemanden verstecken, vielmehr scheint er sich fast schon auf der Überholspur zu befinden.


    Einige hielten das vorliegende Buch für „komisch“. Die BRIGITTE, der FOCUS bedienten sich dieses Attributes. Auch bei intensiverem Nachdenken vermag ich an diesem Buch nichts „komisches“ zu finden. Es ist sicher an einigen Stellen humorvoll, aber komisch ist es sicher nicht. Eggers bedient sich eines ganz besonderen Humors, eines manchmal etwas traurigen Humors, humorvolle Szenen haben zumeist schon die Nachdenklichkeit und eine lächelnde Traurigkeit im Gepäck. Gerade auch dieses Stilmittel, wenn es denn eines ist, macht dieses Buch zu einem wirklich sehr lesenswerten Buch.


    Eggers ist ein Vollbluterzähler. Seine Personen „leben“, sie wirken weder künstlich noch haftet ihnen etwas Konstruiertes an. Dabei ist jetzt auch nicht von Belang, dass es sich um eine wahre Geschichte handeln soll. Auch real existierende Personen können durch einen wenig begabten Autor zu Kunstmenschen degradiert werden. Nicht so bei Dave Eggers. Er scheint die Menschen zu mögen und darüber hinaus hat es auch den Anschein, dass das Wort „Familie“ für ihn noch eine echte Bedeutung hat und nicht als sinnleeres Lippenbekenntnis vor sich hergetragen wird.


    Ein sehr lesenswertes Buch.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Also ich hab das Buch gerade erst angefangen - gefällt mir bisher sehr gut. Bei dem Vorwort hab ich eigentlich die ganze Zeit gelacht, wobei ich mich frage, wen Eggers nun mehr verarscht - sich selbst oder den Leser. Und einfach, weil es herrlich absurd ist. Von wegen: "Und hier noch eine Zeichnung von einem Hefter."


    Mal sehen, wie die Geschichte sich weiterentwickelt.


    Edit (ich glaube, ich habe noch nie ein so spätes Edit verfasst :grin):


    Ich bin tatsächlich etwas schockiert, dass es schon über ein Jahr her ist, seit ich angefangen habe, dieses Buch zu lesen. Gestern war ich schließlich damit durch.


    Nach obigem Beitrag las ich noch ein bisschen weiter, mochte es recht gerne, aber an irgendeinem Punkt ging mir Eggers Stil auf die Nerven. Ich weiß nicht, was es genau war. Ich mochte einfach nicht weiterlesen.


    Das Buch verschwand im Regal, mit Lesezeichen auf Seite 278. Und dann, ganz spontan vor etwa anderthalb Wochen, habe ich es herausgenommen, ein paar Seiten gelesen, und festgestellt, dass ich das Buch wieder genauso schön finde wie vor einem Jahr. Ich habe die nächsten paarhundert Seiten zwar nicht unbedingt verschlungen, aber für meine Verhältnisse doch recht zügig gelesen.


    Tja, ich frag mich nun etwas woran es liegt, dass ich bei diesem Buch eine so lange Pause gebraucht habe, um dann weiterlesen zu können. Eggers Art zu Schreiben hat definitiv das Potential, anzustrengen. Wie Tom schreibt: Geschwätzig, selbstgefällig - allerdings, wie ich finde, nicht die ganze Zeit. Gleichzeitig ist das Buch aber auch intelligent, humorvoll (manchmal ein recht alberner Humor, den ich aber mochte) und traurig.


    Das ist es, was mir vor allem an diesem Buch gefallen hat: Das Humor und Trauer so häufig nah beieinander lagen. Eggers schreibt dazu etwas wirklich Schönes im Nachwort:
    "Wir wissen, dass wir jeden Tag lachen und auch ernst sind. Wir tun beides, an ein und demselben Tag, jeden Tag aufs Neue. Doch in unserer Kunst unterstellen wir eine klare Trennung der beiden Sphären. Wir gehen davon aus, dass ein Film entweder eine Komödie oder ein Drama ist. Wir gehen davon aus, dass unsere Texte entweder ernste Texte oder humorige Texte sind. Doch was wäre, wenn man mit dieser Trennung unseren Stunden und Tagen beikommen wollte: Jeden Tag kaufen wir einen Lutscher am Kiosk, bekommen einen Witz erzählt, albert jemand mit uns herum [...]. Und all das geschieht selbst an Tagen, an denen andere, furchtbare Dinge geschehen."


    Das trifft für mich sehr schön die Stimmung des Buches - sehr schlimme, traurige Dinge geschehen, und trotzdem ereignet sich auch komisches. Ich glaube, das ist es, was dem Roman ab und an etwas Absurdes gibt. Gleichzeitig hat Eggers damit bei mir einen Nerv getroffen, ich mag diese Vorstellung von traurigem und komischem in Verbindung. Das hat dieses Buch für mich zu einem sehr erstaunlichen und schönen Leseerlebnis gemacht, trotz der sehr langen Lesepause.

    In der Einsamkeit wird Liebe entstehen.

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