Suhrkamp, 2008, Gebundene Ausgabe: 375 Seiten
Mit 64 Abbildungen
Inhalt (Suhrkamp-Angabe)
Wie kommt Hans Magnus Enzenberger dazu, die Biographie eines deutschen Generals zu schreiben? Sein Held heißt Kurt von Hammerstein. Tief in die Politik der Weimarer Republik verwickelt, war er Chef der deutschen Armee bis zu jenem Tag im Februar 1933, an dem Hitler in der Dienstwohnung des Generals seine Pläne für den zweiten Weltkrieg ankündigte. Nach dieser Geheimrede nahm Hammerstein seinen Abschied.
"Angst ist keine Weltanschaung", sagte er. Der unerschütterliche Gegner der Nationalsozialisten, der mutige Zauderer, der Grandseigner, der Kenner Rußlands wurde zum Zeugen des Untergangs seiner Klasse, des deutschen Militäradels. Auch die Lebensläufe seiner sieben Kinder sind gezeichnet von den Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts, von Verrat, Illegalität, Widerstand und Sippenhaft. Zwei seiner Töchter, liiert mit jüdischen Kommunisten, haben für die Komintern spioniert, zwei seiner Söhne waren beteiligt an Stauffenbergs Versuch, Hitler zu entmachten.
Alle Protagonisten dieser deutschen Geschichte haben ein gefährliches Doppelleben geführt - von Schleicher, dem letzten Reichskanzler der Weimarer Republik, bis zu Ruth von Mayenburg, Majorin der roten Armee, und von den Agenten der KPD bis zu jener unscheinbaren Drogistin, die in Kreuzberg Deserteuere und Juden versteckte.
Hans Magnus Enzenberger verfolgt ihre Spuren in der Literatur und in den Familienüberlieferungen, in den Archiven von Berlin und Moskau, Mücjen und Toronto. Dabei nimmt er die Freiheiten der Literatur für sich in Anspruch - in kommentierenden Essay und einer so alten wie bewährten Form der Fiktion: im Totengespräch.
Zum Autor:
Hans Magnus Enzensberger, geboren 1929 in Kaufbeuren, lebt heute in München. Seit einiger Zeit schreibt der Autor auch Kinder- und Jugendbücher. Sein Buch "Der Zahlenteufel" wurde mit dem 'Luchs' ausgezeichnet. 1963 erhielt Hans Magnus Enzensberger den Georg-Büchner-Preis.
Weiteres Biographisches siehe Verlagshomepage: www.suhrkamp.de/autoren/autor.cfm?id=1134
Meine Meinung:
Die vermeintlich schwere Kost entpuppt sich schnell als sehr interessanter Lesestoff, der spannend wie ein Roman wirkt, ohne einer zu sein.
Durch die vielen Fotos, die gut gezielt eingesetzt werden und von hervorragender Qualität sind, bekommen die Figuren, die Enzenberger so eindringlich vorstellt, ein Gesicht und die Persönlichkeiten werden verständlich.
Die Kapitel sind so kurz gesetzt, dass sie für den Leser leicht zugänglich werden. Das ist wirklich sehr angenehm zu lesen.
Die Totengespräche, also die fiktiven Interviews, die Hans Magnus Enzenberger mit Hammerstein und anderen Persönlichkeiten dieser Zeit führt, sind leicht, aber einfallsreich gewählt. Sie tragen ebenfalls dazu bei, die Personen dem Leser Näher zu bringen und sind oft sogar trotz der Thematik sehr amüsant.
Zu den interessantesten Gesprächspartnern, die mir neben Hammerstein besonders aufgefallen sind, gehören Kurt von Schleicher, Ruth von Mayenburg, und Leo Roth.
Einblicke erhält man auch durch die vielen ergänzenden Zitate von z.B. Hammersteins Töchtern, die den privaten Hammerstein, den Vater, der oft nicht anwesend war, zeigen.
Hammersteins Töchter waren überzeugte Kommunisten, sicher nicht ganz gewöhnlich für Töchter eines Generals. Auch zwei seiner Söhne waren aktive Widerständler gegen Hitler.
Das Buch behandelt zu ca. 50% die Zeit vor Hammersteins Amtsniederlage, die zweite Hälfte die Zeit danach. Neben Hammerstein werden auch die Lebensläufe seiner Familie ausführlich betrachtet.
Irgendwann gibt es dann doch den Punkt, wo der ahnungslose Leser (also ich) von der Flut der Fakten erschlagen wird, aber immerhin verschont Enzenberger den Leser mit Fußnoten, Auslassungszeichen und ähnlichen, was den Lesefluss behindern könnte. Warum das trotzdem kein Roman sei, begründet der Autor noch im Postskriptum.
Am Ende befinden sich Quellenangaben, ein Personenregister und ein Stammbaum.
Warum ich die Geschichte Hammersteins, dessen Namen ich vor diesem Buch kaum kannte, für bedeutend halte, lässt sich durch folgendes Zitat von Enzenberger selbst am Besten verdeutlichen:
„Anhand der Geschichte der Familie Hammerstein lassen sich auf kleinstem Raum alle entscheidenden Motive und Widersprüche des deutschen Ernstfalls wieder finden und darstellen.“