Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla - Hakan Nesser

  • Damals, in jenem legendären Sommer 1967, wehten aus England berauschend neue Töne herüber. Procol Harum, Pink Floyd und über allen thronend, John Lennon. Für den 17-jährigen Mauritz war die Berufswahl danach keine Frage mehr. Lediglich Kumla, sein schwedisches Heimatnest, schien als Sprungbrett für einen künftigen Popstar denkbar ungeeignet. Und erst diese Familie! Die Mutter liegt ihm ständig in den Haaren, sich dieselben doch endlich schneiden zu lassen. Schwester Katta schwebt mit Dubbelubbe, einem Polizeianwärter und Hantel schwingenden Kotzbrocken, im siebten Himmel. Auch der brummige Vater ist kein leichtverdaulicher Schwedenhappen. Einziger Lichtblick in diesem menschlichen Kuriositätenkabinett, Signhild Kekkonen-Bolego. Doch Mauritz' zaghafte Pirsch um die schöne Nachbarstochter fruchtet wenig, zunächst.
    Langsam, ganz langsam, lässt Håkan Nesser Wolken vor die Sonne seiner mittsommernächtlich leichten Erzählung vom Erwachsenwerden ziehen. Die Tage unbeschwerter Jugend scheinen gezählt. Seltsame Dinge geschehen unter Mauritz' wachem Blick. Wer ist der Fremde, der abends neben Signhilds geheimnisvoller Mutter Ester im strömenden Regen im Auto sitzt? Was bedeutet der seltsam wissende Blick, den sie Mauritz dabei zuwirft? Auch der skurrile Dichter Olsson, der das Zimmer neben Signhild als Untermieter bezieht, vermag den eifersüchtigen künftigen Popstar nicht zu begeistern. Vollends ins Dramatische schlägt die Handlung um, als Signhild ihren Vater, den vierschrötigen Uhrmacher Kekkonen, ermordet und mit abgeschlagenem Kopf in seinem Bett auffindet!


    Håkan Nesser, der sich in Schweden ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Henning Mankell liefert, pflegt den Horror unterm Teppich des kleinbürgerlich Alltäglichen aufzuspüren. Immer findet er dabei Zeit für hübsche Einsprengsel: Zwecks Taschengeldaufbesserung verdingt sich Mauritz als Torfstecher und fühlt sich prompt wie ein Held der Arbeiterklasse. Kurz vor dem Einschlafen schießt dem angehenden Popbarden die Zeile "A Working Class Hero Is Something To Be" durch den Kopf, einen Erguss, den er am nächsten Morgen seinem Idol mit Widmung zuschickt.


    Am Ende dieses grandiosen Wechselbades aus Thriller und charmantem Entwicklungsroman hat uns das Drama wieder. Ein halbes Leben wird vergangen sein, bevor Mauritz die erschütternde Wahrheit über die Ereignisse jener fernen Tage herausfindet. Der schwedische Sommer ist nun endgültig für ihn zu Ende


    Fast genauso gut, wie *Kim Novak badete nie im See Genezareth*...ein Krimi und noch viel mehr. Die Geschichte eines Erwachsenwerdens, voll Poesie und Romantik, aber auch spannend und aufregend, wie ein Krimi.
    Tolle Mischung!


    lg Bea

  • "Kim Novak..." fand ich noch ganz gut, aber "Barins Dreieck" habe ich nach 50 Seiten enttäuscht und genervt weggelegt...
    Deswegen habe ich mich da bisher noch nicht rangetraut. Dabei ist es der einzige Nesser, der mir noch fehlt, alle anderen deutschen Bücher kenne ich ;-)
    Aber es geht nichts über den guten alten Van Veeteren :-]

    Die besten Dinge im Leben sind nicht die, die man für Geld bekommt.
    Albert Einstein


    Ich lese gerade:
    Michael Theurillat - "Im Sommer sterben"

  • Hallo !


    Ich hatte das Buch letzes JAhr gelesen.
    Da ich vorher nur Van Veeteren Krimis gelesen hatte, die mich nicht so begeisterten, war ich von den Einzelbuch sehr überrascht.


    Super aufgebaut, ohne große Langweile entwickelt sich die Story zu einem super spannenden Krimi!


    Gruß JAnina

  • Hallo!


    Mich hat Barins Dreieck wiederum sehr fasziniert. ;-)
    Ich mag aber Nesser generell und werde mir "Piccadilly Circus" zulegen, sobald es als Taschenbuch erscheint.


    Lg
    Taschenbuch

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Habe das Buch ja zwischenzeitlich fertig gelesen und kann mich Beas Meinung nur anschliessen. Ein wunderbares Buch von einem wunderbaren Autor. :anbet :anbet
    Klasse geschrieben, sehr überzeugende Darstellung z.B. der Gefühle von Mauritz, teilweise ein leiser, feiner Humor. Und ein doch sehr überraschendes Ende, zumindest ging es mir so......... :grin
    Keine Frage: 10 Punkte!!

  • Ich kann mich den positiven Meinungen leider nicht anschliessen. Bis jetzt finde ich das Buch recht zäh und trocken geschrieben.
    Auf Seite 35 bin ich zweimal über den Namen Tjorven gestolpert der in dem Buch auch noch männlich ist ( was mich schon mal sehr stört und angeblich in Schweden gar kein Name sondern eine Bezeichnung ist). Das einzig positive ist die einfühlsam beschriebene Beziehung zwischen Mauritz und Signhild.
    Wer der Mörder sein könnte, weiss ich, wie immer, noch nicht. :cry

    Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht. (Abraham Lincoln, 12.02.1809 - 15.04.1865)

  • Ich bin grad mittendrin und begeistert wie immer von Nesser. :-)
    Ist euch eigentlich die Anspielung auf "Kim Novak" aufgefallen? Das mag ich, wenn ein Autor über mehrere Bücher eine Art "Landschaft" erschafft.

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Zitat

    Original von Taschenbuch
    Ich bin grad mittendrin und begeistert wie immer von Nesser. :-)
    Ist euch eigentlich die Anspielung auf "Kim Novak" aufgefallen? Das mag ich, wenn ein Autor über mehrere Bücher eine Art "Landschaft" erschafft.


    Ja, mir ist das mit Kim Novak auch aufgefallen. Ich liebe die Nesser-Bücher einfach. :-]

  • Der Schluß ist Wahnsinn! Da wäre ich nie drauf gekommen...
    Ich bin jetzt so inspiriert, dass ich gleich einen Van Veeteren Krimi nachfolgen lasse. :-)

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Hallo,


    ich habe das Buch am WE beendet, mit hat es sehr gut gefallen, wie alle anderen auch ( Barins Dreieck habe ich noch nicht gelesen).


    Mir hat sehr gefallen, wie H.N. die Stimmung beschreibt, die Bedeutung der Musik für Mauritz und auch wie sich die Beziehung zwischen Mauritz und Singhild entwickelt.


    Das Ende hat mich sehr überrascht, war in der Zurückschau aber sehr schlüssig und gut entwickelt. Ein sehr gutes Buch.


    LG, Ina

  • Meine Meinung:


    Es ist der Sommer 1967. Mauritz steht an der Schwelle zum Erwachsenwerden und weiß noch nicht, dass er nach diesem Sommer die Kindheit für immer hinter sich gelassen hat. Nicht nur, weil er sich zu seiner Nachbarin Signhild mehr hingezogen fühlt, als noch vor Jahren, als die beiden zusammen gespielt haben, sondern auch, weil deren Vater, der grummelige Uhrmacher, brutal ermordet wird. Ein Skandal in dem idyllischen schwedischen Dorf, bei dem zwar vom Täter jede Spur fehlt, aber dafür emsige Ermittlungsarbeiten und schon bald böse Gerüchte die Runde machen.<br>
    Wie schon in "Kim Novak badete nie im See von Genezareth" gelingt es Nesser auch hier wieder eine perfekte, dichte Atmosphäre zu schaffen, die irgendwo zwischen dem unbeschwerten Schweden Astrid Lindgrens und den düsteren Schweden-Krimis liegt und die dem Leser zum Greifen nahe ist. Obwohl der Mord an dem Uhrmacher Dreh- und Angelpunkt der Ereignisse ist, erfährt der Leser so viel mehr über Mauritz, seine Gedanken, Gefühle und sein Leben, dass die Tat selbst und ihre Folgen manchmal nur wie ein Aspekt von vielen erscheint. Ein spannender und ungewöhnlicher Krimi, der vor allem durch seine fesselnden Beschreibungen alltäglicher Situationen besticht und dessen Auflösung so verblüffend einfach und doch so tragisch ist.


    (Die Auflösung hatte ich zwischendurch mal auf dem Plan, sie aber dann doch (zu? *g*) schnell wieder verworfen... :grin)


    Zitat

    Original von Taschenbuch
    Ich bin grad mittendrin und begeistert wie immer von Nesser. :-)
    Ist euch eigentlich die Anspielung auf "Kim Novak" aufgefallen? Das mag ich, wenn ein Autor über mehrere Bücher eine Art "Landschaft" erschafft.


    Nein, leider nicht :-( Wo habe ich was überlesen? :help


    @ all
    Dieses hier und Kim Novak haben mir beide supergut gefallen und jetzt frage ich mich natürlich - sind die Van Veeteren Krimis dann ebenfalls automatisch zu empfehlen oder schreibt Nesser hier völlig anders?

  • Das war mein erstes Buch von Hakan Nesser und wird auch bestimmt nicht mein letztes sein. Ich habe es zufällig in einer "Mängelexemplar"-Kiste für 3 Euro entdeckt, mitgenommen und es nicht bereut :grin
    Ich hab ein wenig gebraucht, um in die Geschichte rein zu kommen, aber dann war es einfach nur toll. Eigentlich bin ich ja gar kein Krimileser, aber dieses Buch hat mich überzeugt. Eine Mischung aus Spannung und Gefühlen und keines von beiden plump geschrieben.
    Bis zum Ende hatte ich zwei Tatverdächtige, die sich beide nicht als solche heraus stellten. Ein plausibles Ende, auf das ich nie gekommen wär ;-)


    Ist Van Veeteren denn eine Krimi-Reihe von Hakan Nesser? Ich muss mich mehr über diesen Autor informieren....


    Liebe Grüße,
    Leilani

  • Kumla ist ein verschlafenes Dörfchen, in dem selten etwas Spannendes passiert – bis der Uhrmacher Kalevi Kekkonen tot aufgefunden wird. In dem Hals des abgetrennten Kopfes, der neben der Leiche liegt, steckt ein Zettel, auf dem folgender Schachzug notiert ist: "e2-e4 schachmatt".


    Der sechzehnjährige Ich-Erzähler dieser Geschichte beschäftigt sich mit diesem rätselhaften Fall wegen der Tochter des Opfers, für die er heimlich Gefühle hegt. Von dieser erfährt er immer mehr Details, die möglicherweise in Zusammenhang mit der Tat stehen. So erzählt sie ihm zum Beispiel von dem extrem schlechten Verhältnis ihrer Eltern zu einem geheimnisvollen Untermieter, der einige Zeit vor der Tat unter dem Namen "Dichter Olsson" bei der Familie Unterschlupf fand.


    Das Buch beginnt 35 Jahre nach den Ereignissen von damals. Mauritz schildert dem Leser die damaligen Geschehnisse während einer Zugfahrt, an deren Ende er nach mehreren Jahrzehnten endlich die Auflösung des Falles erfährt.


    Das Krimielement ist in diesem Buch eher ein Nebenaspekt. Viel mehr Aufmerksamkeit wird Mauritz‘ Entwicklung zum Mann und seiner Beziehung zu Signhild, der Tochter des Opfers, gewidmet. Nesser schildert eindringlich aber auch mit Humor und Ironie das Lebensgefühl der 60er Jahre, in denen Mauritz aufwächst. Die immer intensiver werdende Beziehung zwischen ihm und der Nachbarstochter wird lebensnah und authentisch erzählt ohne in Kitsch abzudriften.


    Die Aufklärung der Geschehnisse erfolgt erst am Ende des Buches und ist sehr kurz gehalten – und gerade deswegen so verstörend. Der Leser bleibt aufgrund des abrupten Endes nachdenklich zurück und wird sich noch lange Gedanken zu dem Buch machen.


    "Und Piccadilly Zirkus liegt nicht in Kumla" ist insgesamt ein sehr eindringliches Buch, in dem die Krimihandlung etwas zu kurz kommt, das Lebensgefühl und die Probleme der Protagonisten dafür aber umso ausführlicher beschrieben werden.

    "I think too much. I think ahead. I think behind. I think sideways. I think it all. If it exists, I’ve fucking thought of it.''
    — Winona Ryder


  • Für mich ist "Und Piccadilly Circus liegt nicht in Kumla" eines von Nessers allerbesten Büchern, das auch beim wiederholten Lesen nichts von seinem Reiz verliert.
    Atmosphärisch dicht, mit feinem, unaufdringlichem Humor durchzogen, ist es sowohl ein Krimi als auch eine Coming of Age-Geschichte der erfreulichen Art.
    Die Auflösung kommt natürlich völlig überraschend, ist aber in sich schlüssig und nachvollziehbar.
    Am besten hat mir gefallen, wie einfühlsam der Autor die Liebesbeziehung zwischen Mauritz und Signhild beschriebt und die Lebenswelt des jugendlichen Erzählers mitsamt allen Höhen und Tiefen schildert.
    Tolles Buch!