Schwarzes Eis. Mein Russland - Mariusz Wilk

  • Kurzbeschreibung
    "Wie das Meer in einem Wassertropfen, so sieht man Rußland von den Solowjezki-Inseln aus", schreibt der polnische Schriftsteller und Reporter Mariusz Wilk am Beginn von "Schwarzes Eis", das auf einzigartige Weise von der russischen Geschichte und der postsowjetischen Gegenwart erzählt. Wilk berichtet von glühend weißen Nächten, märchenhaften Wäldern, aber auch von verwitterten Baracken und Stacheldrähten, von Gebeinen und Teilen von Raketen und U-Booten, die aus Schnee und Boden ragen. Es gelingt ihm, auf engstem Raum, durch eigenwillige Analysen religiöser, ideologischer und politischer Zusammenhänge, jene Prozesse zu erfassen, die sich in Rußland auf riesiger Fläche abspielen.


    Über den Autor
    Mariusz Wilk, geboren 1955 in Breslau. 1981 Pressesprecher der Solidarnosc in Danzig, inhaftiert von Dezember 1981 bis 1983 und von 1984 bis 1986. Nach 1989 zuerst Korrespondent in Berlin und später in Moskau. Lebt seit 1993 auf den Solowjezki-Inseln und veröffentlicht regelmäßig in der polnischen Zeitschrift Kultura.



    Meine Meinung:


    Dieses Buch ist der Versuch eines Außen-Innenstehenden, Russland zu deuten.
    Der Autor, gebürtiger Pole lebt seit vielen Jahren in Russland und seit mehr als einem Jahrzehnt in Solowki, einer abgelegenen Inselgruppe im Weißen Meer.
    Und da Russland schon allein ob seiner schierer Größe in einem Menschenleben nicht bereist, geschweige denn beschrieben werden kann, versucht Wilk, es mit einem anderen Ansatz:


    In der Inselgruppe Solowki, bequem zu Fuß zu umrunden an einem Tag, sieht er ganz Russland widergespiegelt:
    das postsowjetische Elend, Menschen mit zerschlagenen Biografien in einer ruinierten Umwelt, aber auch die Faszination einer Gemeinschaft von Außenseitern vor der lebensfeindlichen, aber auch grandiosen Kulisse des hohen Nordens;
    die rechtgläubigen Mönche, die das alte Kloster renovieren und mit samt seinen orthodoxen Ritualen wiederbeleben, aber auch dafür sorgen, dass der Antisemitismus wieder Einzug hält;
    das Lager, das hier von der Zaren- bis zur Sowjetzeit betrieben wurden, in denen russische Abweichler jeglicher Couleur vegetierten, angefangen bei staatsstürzlerischen Mystikern mit teils haarsträubenden religiösen Überzeugungen, weiter über frühe Revoluzzer oder in Ungnade gefallene Adlige bis hin zu den Dissidenten der Sowjetära.


    Anhand all dieser Beobachtungen auf kleinstem Raum und mit seinem gründlichen Wissen über die russische Geschichte versucht er, die russische Seele und das russische Schicksal zu erklären. Dabei geht er alles andere als politisch korrekt vor, schreibt manchmal arrogant, manchmal auch zutiefst mitfühlend, oft aber in einer wunderschönen Prosa, die ich in einem Sachbuch nicht erwartet hätte.


    Oft belässt er die russischen Worte in seinem Text, die nur schwer zu übersetzenr sind und eine sehr russische Bedeutungsfülle besitzen oder aber besondere russische Pähnomene beschreiben. Einige davon werden im Glossar erklärt, manche erschließen sich einem erst viele Seiten später. Ein Trick, der einen noch tiefer die Lebenswirklichkeit am Polarkreis hineinzieht und einen zwingt, sich näher mit diesen Phänomenen zu beschäftigen


    Irritierend für mich war manchmal, dass das Buch von einem Polen geschrieben wurde, und ich deshalb häufig Anspielungen über die polnisch-russische Geschichte und die daraus resultierenden Konsequenzen für das heutige Verhältnis zwischen diesen Staaten nicht verstanden habe, ebenso wie manche Fremdworte und Vergleiche, die ich nachschlagen musste.


    Ansonsten aber ein absolut fesselndes Buch, verstörend aber auch betörend!

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von DraperDoyle ()

  • Das klingt sehr interessant. Spätestens, wenn ich vsl. im Februar Dostojewski gelesen habe, werde ich wieder was über Rußland suchen. Das Buch behalte ich mal im Auge; das könnte dann genau richtig sein.


    Danke für die Rezi. :wave

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")