Literarischer Adventskalender - Evelyne Polt-Heinzl/Christine Schmidjell (Hrsg.)

  • Seit vielen Jahren lockt der Reclam-Verlag regelmäßig ab Oktober mit seinem Literarischen Adventskalender. Der diesjährige hat mich schließlich auf dem Weg zur Kasse begleitet.
    Es ist ein kleines, gebundenes Büchlein, das sehr angenehm in der Hand liegt, mit einem bunten Schutzumschlag und einem überaus eleganten dunkelroten Vorsatzblatt. Abgesehen davon, daß auf ein gleichfalls elegantes Lesebändchen mal wieder verzichtet wurde, ist es, wie es sich für einen Adventskalender gehört, voller Geschenke.


    Die Gaben sind reich gestreut. Umrahmt ist das Ganze mit Prolog und Epilog in den Worten eines Dichters, der sich, was man leicht vergißt, von der Winter - und Weihnachtsstimmung nur zu gern hat anregen lassen, Rainer Maria Rilke. Das Atmen der hohen Tannen, der Blick des Abends in die stille Stube, in der sie alle beieinandersitzen - man hört und sieht es sofort, ein schöner Anfang.
    Derart eingestimmt, kann man sich von den Texten dieses Kalenders durch den Dezember begleiten lassen. Mindestens zwei erwarten eine pro Tag, nicht selten sind es drei und vier, Prosa und Lyrik. Der Schwerpunkt liegt bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dazu gibt es winzige Kostproben aus England, Italien, Frankreich, Rußland und den USA. Es sind nicht immer erzählende Texte, es gibt auch Auszüge aus Briefen oder Tagebüchern. Die Zeitspanne erstreckt sich vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (Hoffmann von Fallersleben, Heine) bis heute. Die gesamte Auswahl scheint vor allem eines zum Ziel gehabt zu haben: die Leserinnen und Leser zu überraschen.


    Und das gelingt. In welchem Buch findet sich schon Gorki neben Christine Grän, Alfred Polgar bei Truman Capote, Colette in der Nähe von Leopold Kandler, Marlen Haushofer bei Thomas Mann, Rose Ausländer bei Anais Nin? Es ist eine hinreißende Mischung. Walter Benjamin darf sich äußern, Paula Dehmel wird dankenswerterweise der Vergessenheit entrissen, in die sie ganz unverschuldet gerutscht ist, aber auch, man kann es nicht genug loben, Detlev von Liliencron oder Hugh Walpole. Über dem Surren der kleinen Weihnachtsmänner bei Marie Luise Kaschnitz kann man sogar den ewigen Waggerl hinnehmen, eine Plattitüde in der sonst sehr anregenden Auswahl der Texte.


    Damit nicht genug, wird jeder Dezembertag mit einer dazugehörigen Bauernregel eingeleitet. Obendrein gibt es insgesamt sieben Weihnachtslieder, damit man vor lauter Literatur nicht den Ausgangspunkt für diesen Adventskalender vergißt. Man kann aber, und durchaus mit Recht, behaupten, daß Liedtexte wie z.B. Es kommt ein Schiff geladen oder Paul Gerhardts Fröhlich soll mein Herze springen, längst ihren Platz in der Literatur eingenommen haben.
    Geschmückt ist das Ganze mit kleinen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Franz-Milan Wirth, so zwischen Holzschnitt, Linolschnitt und Schattenriß. Da schaukelt ein Schaukelpferd, dort liegen Geschenkpäckchen. Kerzen brennen. Am 24. Dezember wartet der Weihnachtsbaum. Daß im Adventskranz am Anfang schon alle vier Kerzen brennen, hätte nicht unbedingt sein müssen. Aber es sieht hübsch aus.


    Das letzte Wort hat wieder Rilke. ‚Da kommst du nun, du altes zahmes Fest ...’ ‚Vor Weihnachten 1914’ Eine Mahnung der besonderen Art.
    Sie ist nicht die einzige, viele der Texte enthalten weitergehende Überlegungen, sind nicht in jedem Fall leichte Lektüre. Man muß sich Zeit lassen dazu. Die hat man ja an den langen Abenden des Dezember.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus