Madame Verona steigt den Hügel hinab - Dimitri Verhulst

  • Madame Verona steigt den Hügel hinab
    “Mevrouw Verona daalt de heuwel af”, Dimitri Verhulst, 2006

    Übersetzung: Rainer Kersten, 2008
    Meine Rezi bezieht sich auf die Ausgabe:
    Sammlung Luchterhand, ISBN 978-3630621296


    Hätte ich gewusst, dass Dimitri Verhulst auch das Buch “Die Beschissenheit der Dinge” geschrieben hat, hätte ich dieses hier ganz sicher nicht gekauft. Einfach aus Vorurteilen gegen den ersten Titel. Zum Glück wusste ich es nicht.


    Denn sonst hätte ich dieses unglaublich stille und schöne Buch verpasst. Die Handlung dreht sich um das Dorf Oucwègne irgendwo in Belgien, das aus ein paar bewohnten Hügeln und einem winzigen Dorfkern besteht, die Eigenheiten der Einwohner und Sonderheiten des Dorfes an sich - und um die titelgebende Mme Verona, die sich entschieden hat, sterben zu wollen, und deshalb den Hügel von ihrem Haus hinabsteigt und dabei die Jahre mit ihrem M. Potier in Oucwègne an sich vorbeiziehen lässt.


    Das Buch ist nur 109 Seiten lang, die aber völlig ausreichten, um mich durch die schöne Sprache nach Oucwègne zu ziehen. Viel Handlung in dem Sinne gibt es nicht, wer das erwartet, wird sich ein wenig verloren vorkommen in dem Buch.
    Mme Verona versteht es aber, in ihren Rückblicken die tiefe Verbundenheit mit ihrem Liebhaber M. Potier deutlich zu machen, durchbrochen von Episoden über die Frau Doktor, die auf ihre schroffe Art sowohl Tiere als auch Menschen verarztet, der Erklärung, warum die Bürgermeisterin von Oucwègne eine Blonde d’Aquitaine ist - und immer wieder Mme Veronas Begegnung mit Hunden.


    Manchmal wusste ich nicht ganz, wohin das Buch mich mit seinen Episoden führen wollte und etwas mehr Handlung hätte als roter Faden dem wohl entgegensteuern können - das ändert aber nichts daran, dass es mir gut gefallen hat. Denn die Überzeugungskraft des Buches liegt im Blickwinkel und in der Sprache. Es ist eine stille, teilweise ein wenig absonderliche und vielleicht sogar etwas schlichte Geschichte über die Einsamkeit und die trotz dem Tod des Liebsten unvergangene Liebe der Mme Verona, die meiner Meinung nach kaum jemanden wirklich kaltlassen kann. Und das alles in einem feinen, poetischen Stil, der diese Erzählung auch sprachlich zu einem Genuss werden lässt.


    Nach diesem schönen Büchlein werde ich mich vielleicht auch an Verhulsts Erstling mit dem unattraktiven Titel wagen.


    Fazit
    Dimitri Verhulst hat ein Gespür für die richtigen Sätze zur richtigen Zeit und schafft es so auch auf wenig Seiten, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Auch wenn dem Buch etwas die verbindende Handlung fehlt, empfehle ich es jedem, der sich auf eine kurze, stille Reise in ein etwas sonderliches belgisches Dörflein begeben möchte.


    8/10 Punkten


    :wave bartimaeus


    Edit: Verbesserungen.

  • Tiefgründige Erzählung von der Liebe und vom Sterben


    Die Bewohner von Oucwègne im französischsprachigen Teil Belgiens hatten schon immer eine bemerkenswerte Art, mit dem Unvermeidlichen umzugehen. Als es nicht mehr anders ging, suchte Monsieur Potier, der Mann der Madame Verona, wegen seiner Beschwerden die Tierärztin Madame Lunettte auf; denn einen Hausarzt gab es im Dorf schon lange nicht mehr. Potier weiß, dass er bald sterben wird, versorgt seine Frau mit einem unvorstellbar großen Vorrat an Brennholz, der Jahrzehnte reichen wird, und erhängt sich anschließend in seinem Garten an einem Baum. Nun hat die betagte Madame Verona das letzte Holzscheit verbraucht. Die alte Dame ist zur Gefangenen ihres Hauses geworden, das das Ehepaar damals bewusst auch für Zeiten plante, in denen einer von ihnen nicht glücklich sein würde. Madame Verona kann den Hügel zum Dorf noch ein letztes Mal hinunter gehen - zurück wird sie es nicht mehr schaffen und deshalb in der bitteren Kälte erfrieren.


    Dimitri Verhulst (* 1972) hat eine kurze, symbolhafte und tiefgründige Erzählung über die Einsamkeit im Alter und das Sterben verfasst, die ich sicher nicht zum letzten Mal gelesen habe. Die Geschichte zeigt mit subtilem Humor ein alterndes Dorf, in dem es für die knapp vierzig Einwohner noch nicht einmal einen Geldautomaten gibt, und beobachtet die Bewohner bei ihren jeweiligen Vermeidungsstrategien, sich mit dem Alter und der eigenen Endlichkeit auseinander zu setzen. Wie den Hügel, der verhindert, dass Madame Verona zum Einkaufen gehen und unter Menschen kommen kann, hat Verhulst jede Figur, jeden Gegenstand und sogar die Art, wie Madame Verona ihre Zeit misst, in ihrer Symbolik sehr bewusst gewählt. Verhulsts Erzählung kann auf ihre leichtfüßige, schwebende Art den Leser sehr nachhaltig treffen. "Madame Verona" ist eine wunderbare Geschichte zum Vorlesen, für Gesprächskreise, aber nicht unbedingt geeignet für Leser, die gerade Kontakt zu Sterbenden haben und die Handlung als zu makaber empfinden könnten.