Wieviel Erfahrung braucht der Autor?

  • Vorab möchte ich gleich anmerken, dass diese Frage weniger an die Fantasy- und Sci-Fi-Autoren gerichtet ist, denn ich gehe davon aus, dass es schwer ist, Fabelwesen aufzuspüren oder als Normalbürger in den Weltraum zu reisen.


    Auch bei den Krimiautoren habe ich Verständnis, wenn keine eigenen praktischen Erfahrungen in Sachen Mord- und Toschlag vorhanden sind.


    Aber ich frage mich doch, inwieweit es erforderlich ist, Dinge selbst erlebt zu haben, um darüber passabel schreiben zu können. Eine Freundin von mir meinte einmal, sie könne keine Geschichte schreiben, in der eine Frau ein Kind bekommt, weil sie selber noch nie schwanger war, ihr also die Erfahrung fehlt.


    Beim Lesen stolpere ich teilweise auch über entsprechende Abschnitte, die mir weltfremd anmuten, z.B. unrealistische Bettszenen, die den Eindruck erwecken, dass der Verfasser tatsächlich im Zölibat lebt und seine "Anregungen" aus Film, Fernsehen und bestimmten Büchern bezieht.
    Oder auch realitätsferne Beschreibungen von beruflichen Tätigkeiten oder (zwischenmenschlichen) Konflikten.


    Daher frage ich mich, wieviel Erfahrung ein Autor eurer Meinung nach haben sollte?
    Muß er bestimmte Situationen erlebt haben, über die er schreibt? Oder braucht er vieleicht gar keine Erfahrungen, weil die reine Recherche ausreicht?


    Muss ein Autor z.B. Hundehalter sein, um in einer Geschichte glaubwürdig das Verhältnis zwischen einem Menschen und seinem Vierbeiner beschreiben zu können?


    Muss er selber ein Instrument spielen können, wenn dieses Thema im Mittelpunkt seines Romans steht?


    Muss er eigene Erfahrungen im Umgang mit Alkohol oder Rauschmitteln mitbringen, um hierüber überzeugend zu schreiben?


    Etc. etc.


    Ich bin sehr gespannt auf eure Meinungen dazu als auch eure eigene diesbezügliche Praxis beim Schreiben. :wave

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  • Ich antworte mal als Leser: da ist es mir egal, welche "Erfahrungen" ein Autor gemacht hat. Wichtiger sind mir gute Vorbereitungen und Recherchen.
    Ich will mich nicht ärgern müssen, wenn ich über etwas lese, wovon ich selbst etwas Ahnung habe...


    Beispiel: Thomas Mann. Ich weiss nicht, ob er in Ägypten und Israel war, bevor er den Joseph geschrieben hat. Jedenfalls weiß ich, dass er nicht in der Zeit lebte, die er beschreibt. Aber ich weiß auch, dass er sich sehr gründlich in die Literatur der damaligen Alttestamentlichen und Archeologischen und vergleichbaren Forschung eingearbeitet hat und wußte, was da der Wissensstand ist.
    Ich weiß auch nicht, ob er ein Instrument spielte, oder ob er gar komponierte. Aber der Adrian Leverkühn ist brillant recherchiert. Mann kannte SChönbergs Kompositionstechnik und viele anderen Details wirklich gut. - Ich nehme an, er hat sich belesen.
    Man könnte das fortsetzen und auch anhand anderer Autoren deutlich machen.


    Wenn jemand schlecht über guten Sex schreibt, sollte er vielleicht überlegen, ob er das Schreiben darüber läßt und sich allein auf den guten Sex konzentriert...

  • Hallo, Alice.


    Es ist sehr häufig so, dass Autoren eine vermeintliche Realität schildern, die aus zweiter Hand stammt, nicht selten übrigens von anderen Autoren. Das Krimigenre ist ein gutes Beispiel dafür: Wie der Verlauf von Ermittlungen dargestellt wird, hat in vielen Fällen nichts mit der Arbeitsrealität von Polizeibeamten zu tun. Das Genre hat seine eigene Realität geschaffen. Serien wie "Tatort" kolportieren das Bild vom flexiblen, sich ausschließlich auf einen einzigen Fall konzentrierenden Ermittler, der alle Freiheit der Welt hat - insbesondere was die Gestaltung seiner Arbeitsabläufe anbetrifft - und zudem meistens auch noch persönlich involviert oder sogar betroffen ist. Was Kriminalbeamte tatsächlich tun, sieht völlig anders aus.


    Aber das ist auch ein gleichzeitig schlechtes Beispiel, weil die Autoren hier die Erwartungshaltung der Leser und Zuschauer befriedigen.


    Es ist sehr schwer, selbst schwanger zu werden, wenn man ein männlicher Autor ist, aber über das Erleben einer werdenden Mutter schreiben will oder muss. Gefährlich ist, das einfach so zu schreiben, wie man es sich vorstellt. Gespräche und Recherche allgemein sind da sehr hilfreich. Autoren sollten über eine sehr gute Beobachtungsgabe verfügen, das ist m.E. sogar eine der wichtigsten Voraussetzungen. Empathie. Menschenkenntnis. "Gesunden" Menschenverstand. Damit kann man schon viel bewältigen, sogar eine solche Schilderung. Oder man verzichtet auf die Details, von denen man nichts weiß.


    Nicht selten wird das Zweitehanderleben zum Dritte-, Viertehanderleben. Auf das Bild des Durchschnittsmanagers, das Presse und Fernsehen transportieren - ein gewiefter, eloquenter Lebemann, teuer gekleidet, mit einer hübschen, aber doofen Frau ausgestattet und insgesamt vor allem geldgierig - greifen viele Schriftsteller zurück, wenn das Personal eines Romans das erfordert. Hier wird das fiktionale Bild zum Vorurteil für eine ganze Generation. Die meisten Manager sind völlig anders. "Stereotyp" ist das Stichwort.


    Ein gutes Beispiel ist auch - von Dir bereits angesprochen - Sex. Hier klaffen öffentliches Bild und Realität ebenfalls weit auseinander. Sex ist kein Tabu mehr, wird ständig thematisiert, gilt als Leistungsaspekt einer funktionierenden Beziehung. Wechselnde Stellungen, Sexspielzeug, offene Gespräche, Spaß bis zum Gehtnichtmehr - so, macht das Fernsehen wenigstens Glauben, sieht der Bettalltag des Durchschnittsdeutschen aus. Die meisten aber pimpern zweimal im Monat für sieben Minuten in der Löffelchenstellung, wenn überhaupt. Sex wird in der Literatur häufig als Ereignis dicht am Wahnsinn geschildert, wobei Gefühle explodieren und man den eigenen Körper wahrnimmt wie sonst nie. Das mag in Einzelfällen sogar stimmen, aber für viele Menschen ist Geschlechtsverkehr ein relativ normaler, körperlicher Vorgang, der befriedigt, einen aber keineswegs für zehn, zwanzig, hundertzwanzig Minuten zu einem überempfindenden Bettcaterpillar macht. In diesem Bereich haben übrigens viele Autoren - meiner Beobachtung nach - damit Schwierigkeiten, auf das persönliche Erleben bezogen realistisch zu sein, weil sie Angst davor haben, sich als Vögelnormalo zu outen.


    Man sollte wissen, worüber man schreibt. Das heißt nicht, dass man es selbst erlebt haben muss. Manch einer verfügt sogar über eine so exzellente Phantasie, dass es ihm gelingt, realistisch von etwas zu erzählen, wovon er keine Ahnung hat.

  • @licht: Stimmt. ;-)


    Alice : Manchmal - nicht nur im Krimibereich - müssen Autoren unrealistisch schreiben. Lies Dir das hier mal durch. Das ist treffend und außerdem sehr amüsant:


    http://www.maz.ch/arbeiten/Str%C3%A4ssle_NZZ_Folio.pdf

  • Hallo Tom,


    vielen Dank für Deine ausführliche Antwort. Es ist wohl tatsächlich so, wie Du schreibst. Viele Bücher sind der schlagende Beweis dafür.


    Natürlich muss ein Mann nicht selbst die Schwangerschaft erfahren, zumal technisch nicht möglich, aber wenigstens eine zu begleiten und aus nächster Nähe zu erleben, ist sicher hilfreich.


    Stichwort "Sex": genaus das hatte ich gemeint. Obwohl ich jetzt, um die Minderheiten in Schutz zu nehmen, sagen muss, dass es sicher auch Ausnahmen von der "Regel" zweimal im Monat à sieben Minuten in Löffelhaltung gibt. Allerdings sind die "Bettexplosionen" mit Flow-Erlebnis u.a. sicher mehr als realitätsfern und vermutlich nur unter dem Einfluss bestimmter Barbiturate überhaupt möglich.


    Interessant ist auch die Aussage, dass Autoren unrealistisch schreiben müssten (den Link dazu werde ich mir gleich noch ansehen), weil das 08/15 -Leben nicht fesselt oder lesenswert ist.
    Meine Frage nimmt jedoch weniger darauf Bezug, ob ein Autor die Realität 1 zu 1 wiedergeben soll, sondern, ob er sich mit Dingen, die in seinen Büchern einen zentralen Platz einnehmen, selbst auseinander gesetzt haben soll - und zwar nicht nur durch reine Recherche und Wälzen von Sekundärliteratur.

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  • Hallo Alice!


    Sehr gute Frage! Beschäftigt mich auch gerade und zwar in Bezug auf die entscheidende Schwierigkeit: Muss ich ein Mann sein um einen männlichen Protagonisten glaubwürdig in der Ich-Perspektive zu erzählen? Ich weiß es nicht. Ich glaube eher, ich muss mich sehr intensiv damit auseinandergesetzt haben, wie ein Mann denkt und fühlt. Empathie ist das richtige Stichwort, Einfühlung. Aber das geht mal besser mal schlechter. Ich fühle mich definitiv wohler, wenn ich über etwas schreibe, das ich selbst erlebt habe. Orte sind für mich so ein Beispiel. Karl May könnte ich keiner sein. Wenn ich über einen Ort schreibe, muss ich dort gewesen sein, sonst geht das nicht. Da hilft auch keine Empathie, keine Fotos oder Videos. Erlebnisse variieren. Aber ich tendiere eher dazu, nicht über Schwangerschaft, Hunde oder Alter zu schreiben, wenn ich nichts davon erlebt habe. Es mag aber sein, dass verschiedene Autoren da verschiedene Methoden haben. Meine Geschichten entstehen eher aus Dingen, die ich gesehen oder erlebt habe als aus reiner Phantasie.


    lg Claudia

  • ... noch zur Ergänzung von all dem, was gesagt wurde: fundierte Recherche in allen verfügbaren Medien und: jemanden fragen, der sich damit auskennt. Beispiel Hund: Wer keinen hat, kann die Szenen, die er geschrieben hat, sicher einem Tierarzt zeigen - in der Regel, meine Erfahrung, helfen die Leute sehr gerne und sind geschmeichelt, wenn man sich für das interessiert, was sie tun.

  • Hallo Claudia,


    ich denke, ein Mann muss man nicht sein, um als Frau aus der Sicht eines Mannes (so abstrus das jetzt klingt) schreiben zu können. Für mich sind beide Geschlechter in erster Linie Menschen. Natürlich gibt es Dinge, die einen Mann nie selbst körperlich betreffen, wie z.B. eben eine Geburt, aber ansonsten gibt es sicher sehr viele Parallelen, wenn nicht sogar Übereinstimmungen.


    Für Bücher, die einen bestimmten Schauplatz zum Thema haben, halte ich es auch für unerlässlich, dort gewesen zu sein, selbst dann, wenn es sich um einen historischen Roman handelt, den man bearbeitet, und der Ort sich in den letzten Jahrhunderten zweifellos verändert hat. Es hilft, ein Gespür zu bekommen.



    Nochmals zu Toms oben genannten Link:


    Eine wirklich unterhaltsame Anleitung einerseits, andererseits erschreckend, wie sehr Schema-F gerade diese Heftchen sind. Da ist tatsächlich null Erfahrung drin und qualifizieren den Autor wie Leser als erfahrenen Soap-Opera-Konsumenten.
    Mir ist immer unbegreiflich, dass so viele Leser sich mit dergleichen abspeisen lassen. Selbst wenn das eine gute Einnahmequelle für Autoren sein mag, ist es doch rein vom kreativen Aspekt her ein Armutszeugnis. :rolleyes

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  • Hallo, Alice.


    Zitat

    andererseits erschreckend


    Warum erschreckend? Hier wird eine Nachfrage befriedigt, wobei den Konsumenten absolut klar ist, dass einem strikten, relativ engen, völlig realitätsfernen Konzept gefolgt wird - weil sie genau das wollen. Es ist übrigens scheißeschwer, schlecht zu schreiben, wenn man es gut kann. ;-)


    Es heißt ja - im Englischen - auch nicht umsonst fiction writing. Wir schreiben Geschichten. Nicht wenige davon haben so gut wie keinen Realitätsbezug, oder sie verfremden sehr stark. Alleine der Ansatz, eine in sich geschlossene Story mit Anfang, Höhepunkt und Ende zu verfassen, ist ziemlich realitätsfern. Im richtigen Leben beginnen und enden die meisten Geschichten nämlich überhaupt nicht. Figuren sind nicht so konfliktgesteuert wie unsere Protagonisten, sondern verbringen ganz im Gegenteil ihre überwiegende Zeit mit Alltagshandlungen. Das Personal ist überzogen dargestellt oder mit überzogenen Eigenschaften ausgestattet. Zufälle spielen wesentlichere Rollen als in der Realität. Und, und, und. Da darf dann auch der Sex mal außerirdisch gut sein oder eine Mutter ihr Kind beim Friseur kriegen. Was ich damit sagen will: Es hängt auch vom Genre und vom Anspruch ab (wobei "geringerer Anspruch" nicht notwendigerweise "unrealistischer" bedeutet). Würden wir alle alltagsgenau schreiben, wären die Romane so langweilig wie ein Drei-Stunden-Aufenthalt auf einem U-Bahnhof (der übrigens sehr spannend sein kann). Überspitzen, fokussieren, unrealistisch sein, mit dem Was-wäre-wenn spielen usw. - das gehört dazu. Leser wissen, dass sie Fiktion lesen. Die meisten wenigstens.


    Damit will ich nicht das zuvor Gesagte negieren. Es geht darum, was und wen man erreichen will.


  • Nö, ich finde, es reicht vollkommen, wenn er jemanden kennt, der einen Hund hält, oder jemanden, der ein Instrument spielt. Man kann auch massenhaft Bücher zu allen möglichen Themen finden, und zu guter Letzt gibt es zum recherchieren ja immer noch das gute Internet - von mir wird das zu Recherchezwecken extrem frequentiert. Dazu frage ich Freunde und Bekannte, wenn ich ganz spezielle Auskünfte brauche, scheue ich mich auch nicht, mal bei entsprechenden Stellen anzurufen, wie grade für meinen neuen Roman bei der Direktorin der JVA Stuttgart-Stammheim - diverse Internas findet man nicht im Netz, und ich kenne auch keinen Knastologen persönlich. ;-)


    So mit der Zeit hab ich allmählich meine Leute, bei denen ich mir immer wieder Infos einhole - so wie man bei Jauch für jedes Fachgebiet einen Telefonjoker hat, hab ich meine Leute für juristische, kriminologische, psychologische, linguistische, medizinische ... etc. Fragen.

    Worte sind Waffen. Wenn Ihnen etwas ganz stark am Herzen liegt, legen Sie Ihre Waffe an und feuern. (James N. Frey)

  • Ich kann das von Tom gesagte unterschreiben, möchte es aber ergänzen.
    Ein Autor (ebenso ein bildender Künstler, ein Tänzer etc.) benötigt meines Erachtens eine Menge Erfahrung, und zwar in allen möglichen und unmöglichen Bereichen. Er muss neugierig sein und sich in völlig abwegige Themen verbeißen können, er muss in der Lage sein, sowohl schlimme als auch gute Erlebnisse bewerten zu können und unter "Erfahrungen" zu verbuchen. Denn aus diesem im wahrsten Sinne des Wortes "Schatz" wird er schöpfen, wenn er seine Geschichten erfindet – Geschichten sind im Allgemeinen Neukombinationen von vielen Details, die wir kennen. Es ist dem menschlichen Geist nicht gegeben, etwas völlig Neues zu schaffen, selbst in der Fantasy handelt es sich nicht um wahre Neuschöpfungen, sondern extrem phantasievolle Neukombinationen.
    Wenn ein Autor also viele Erfahrungen sammelt, so ist der Pool, aus dem er sich letztendlich bedient, wesentlich größer.
    Ideen werden nicht aus der Luft gegriffen; wer darauf wartet, dass die Muse ihn küsst, wird verdammt lang warten müssen. Nein, es ist ein Prozess von Informationen sammeln und sie gegeneinander abwägen, sie fantasievoll beugen, modifizieren, umfärben ... und dann ist es auch möglich, als Mann über eine Schwangerschaft zu schreiben und als Frau übers männliche Onanieren. Im Zweifelsfalle fragt man halt nach :lache


    Ich bin allerdings trotzdem der Meinung, dass es äußerst hilfreich ist, sich zum Beispiel ein umfassendes Bild des Landes/des Ortes zu machen, in welchem die Handlung spielen soll. Man kann sich eine Menge anlesen, aber Gerüche und Farbe, kleine Alltagsangewohnheiten und Verrücktheiten, ortsspezifische Besonderheiten – das bekommt man nur vor Ort mit. Hinzu kommt, dass diese Erfahrung ungemein inspirierend sein kann. Manche Erfahrungen, die ich auf meinen Reisen gemacht habe, sind so verrückt, dass ich von selbst gar nicht darauf gekommen wäre. Ich merke es übrigens meistens, wenn ein Autor angelesenes Wissen nutzt oder aber sich auf First-Hand-Infos und -erfahrungen stützt. Das heißt nicht, dass alles selbst erlebt/erfahren sein muss. Aber je mehr, desto besser. Finde ich. Sowohl als Autor als auch als Leser.



    Liebe Grüße von
    SteffiB,
    die sich gerade durch einen Wälzer quält, der ihr die ältere und jüngere Geschichte und Politik Nepals näher bringt und der ihre Erfahrungen theoretisch untermauert, auf dass am Ende ein hieb- und stichfestes Kapitel zum Thema herauskomme :grin

  • Zitat

    Muss er eigene Erfahrungen im Umgang mit Alkohol oder Rauschmitteln mitbringen, um hierüber überzeugend zu schreiben?


    Da hatte ich doch glatt was übersehen. :grin


    Das hängt ein bisschen von der Perspektive ab. Berichte über Rauschzustände und weitergehende Hintergrundinformationen findet man in Bilbiotheken und auch im Internet massenweise. Problematisch ist, dass hier Außen- und Innensicht weit auseinanderklaffen können, wobei noch erschwerend hinzukommt, dass Selbsterfahrungsberichte wenig verlässlich sind, weil der Proband unter Strom stand. Vereinfachend: Frag einen Besoffenen: "Wie geht's dir?" und er wird in mehr als 80 Prozent der Fälle: "Prima!" nuscheln. :grin Manch ein Rausch wird nicht mehr als solcher wahrgenommen.


    Wenn man in der Figur steckt und ihre veränderte Wahrnehmung unter Drogen verdeutlichen will, reichen BILD-Kenntnisse (alles schön bunt hier) nicht aus, da macht man sich schnell lächerlich mit. Davon abgesehen ist das sogar sprachlich eine Herausforderung, da jeder Stoff auch hier wirkt. Im Präsens kann man da ganz schön ins Schleudern kommen (Präteritum bevorzugen).


    Will sagen: Auch hier hilft Recherche. Die ist aber mit Vorsicht zu betreiben und zu genießen, da die Wirkung von Drogen sehr individuell ausfällt. Zudem zieht Drogenkonsum - gerade von abhängig machenden Drogen - auch Persönlichkeitsveränderungen nach sich. Davon abgesehen: Wenn man nicht selbst raucht, beispielsweise, ist es äußerst schwer nachzuvollziehen, warum jemand nicht von der Zigarette loskommt - und das ist ein vergleichsweise einfaches Beispiel. Es ist sehr, sehr schwer, Süchte zu verstehen!


    Gerade in diesem Bereich muss man also m.E. sehr vorsichtig und sorgfältig agieren, sonst macht man sich lächerlich. Es ist aber meiner Meinung nach nicht erforderlich, die ganze Palette selbst zu tanken. Wer mal einen fetten Alkoholrausch erlebt hat, weiß schon etwas darüber, was Drogen mit einem Menschen machen können (so er sich erinnert). Ansonsten, wie oben schon gesagt: Wenn man nicht dazu in der Lage ist, Details glaubhaft zu schildern, lässt man sie weg. Das hängt aber, wie ebenfalls gesagt, von der Art des Projekts und z.B. von der Perspektive ab.


    Anlaufstelle für solche Recherchen sind Schwerpunktpraxen, Selbsthilfegruppen, Krankenhäuser, Drogenhilfestellen, Uni-Bibliotheken. Und auch die Kripo betreibt meiner Kenntnis nach Informationsstellen, die entsprechend vermittelnd tätig werden (je nach Bundesland). Und wer sehen will, was Drogen aus einem machen, fährt in eine Großstadt und hält sich eine Woche in der Nähe des Hauptbahnhofs auf. ;-)

  • Tom
    Ein paar Alt-Hippies zu befragen hilft weiter. Deren Beschreibungen eines LSD-Rausches sind enorm plastisch :lache

  • Zitat

    Zitat Tom
    Warum erschreckend? Hier wird eine Nachfrage befriedigt, wobei den Konsumenten absolut klar ist, dass einem strikten, relativ engen, völlig realitätsfernen Konzept gefolgt wird


    Erschreckend für mich persönlich. ;-)


    Aber ob es wirklich allen (Heftromane-) Konsumenten so klar ist, dass sie völlige Fiktion lesen? Manche glauben ja auch, dass das "wahre Leben" das sein muss, was ihnen die Zeitschriften aufzeigen, z.B. einen tollen Job bei einem Medienunternehmen haben und immer in Meetings sitzen plus wechselnde Beziehungen mit interessanten Menschen.


    Ich glaube deshalb, dass wir die Heftromane nicht als Maßstab für das Thema sehen sollten. Die Leser regulärer Bücher erwarten vielleicht doch ein klein bisschen mehr.


    Zumindest denke ich, dass es einem Buch gut tut, wenn sein Autor aus Erfahrung weiß, wovon er schreibt und nur dort auf Zweiteindrücke zurückgreifen muss, wo es nicht anders geht oder es sehr zeit-oder kostenintensiv ist.


    Ansonsten stimme ich mit Steffi überein.

    :flowersIf you don't succeed at first - try, try again.



    “I wasn't born a fool. It took work to get this way.”
    (Danny Kaye) :flowers

  • SteffiB :


    Zitat

    Deren Beschreibungen eines LSD-Rausches sind enorm plastisch


    Ja und nein. Wie oben gesagt - auch die Selbstwahrnehmung wird dramatisch verändert. Gerade unter LSD kann ein Konsument nicht mehr zwischen Halluzination und "geschärfter Wahrnehmung" unterscheiden. Der Rausch hinterlässt in der Erinnerung einen anderen Eindruck als währenddessen - das gilt übrigens für viele Arten von Drogenräuschen. Wenn man also die vermeintlich direkte Wahrnehmung schildert (Ich-Erzähler im Präsens), läuft man Gefahr, Unsinn zu erzählen. Gut, das ist Unsinn, den kaum jemand als solchen entlarven kann. ;-)

  • Alice : Was ist denn bitte ein "reguläres Buch"? Den Ausdruck habe ich noch nie gehört. ;-)


    Nichtbiographische Romane sind immer "völlige Fiktion". Und du solltest die Leser - auch die von Heftromanen - nicht für dümmer halten als sie sind. :grin


    Viele Erzählungen folgen Konzepten, und es werden - auch unbewusst - "Regeln" eingehalten. Hierfür sind die - natürlich extremen - Heftromane durchaus exemplarisch. In vielen Genres (Fantasy, Horror) gelten unausgesprochene Gesetze, die mit der Realität (von den Genrevorgaben ansonsten abgesehen) wenig zu tun haben. Auch das Pro- und Antagonistenkonzept, das in der erzählenden Literatur häufig genutzt wird, entbehrt in dieser Form jeglicher Realität. Undsoweiter.


    Reguläre Bücher. Ts, ts, ts. :lache

  • Zitat

    Original von Tom
    SteffiB :



    Ja und nein. Wie oben gesagt - auch die Selbstwahrnehmung wird dramatisch verändert. Gerade unter LSD kann ein Konsument nicht mehr zwischen Halluzination und "geschärfter Wahrnehmung" unterscheiden. Der Rausch hinterlässt in der Erinnerung einen anderen Eindruck als währenddessen - das gilt übrigens für viele Arten von Drogenräuschen. Wenn man also die vermeintlich direkte Wahrnehmung schildert (Ich-Erzähler im Präsens), läuft man Gefahr, Unsinn zu erzählen. Gut, das ist Unsinn, den kaum jemand als solchen entlarven kann. ;-)


    Weshalb ich auch in meinem neuen Manuskript keine Hemmungen hatte, einen durch eine bewusstseinserweiternde Droge hervorgerufenen Rausch lang und breit zu beschreiben. Gerade beim Rausch scheint sich nämlich, ähnlich wie bei Träumen, durchaus die Realität bzw. die Summe der Erfahrungen, und zwar der präsentesten Erfahrungen, in den Rausch zu schleichen – um dann diese Realitäten ins Absurde zu verbiegen. Womit wir wieder bei den Neukombinationen wären. Selbst das drogengetränkte Hirn bastelt nur Neues aus Altem zusammen, erschafft aber nicht. Wie sagte mein Kreativitätstheorie-Professor so schön? Alkohol und andere Drogen hülfen ganz wunderbar, den "Zensor zu perforieren", sprich die eingebaute Hemmschwelle des kontrollierten Geistes, auch mal Neues und Abwegiges auszuprobieren (bzw. zu kombinieren), zu beseitigen. Weshalb es in meiner Branche (Design) auch so viele Alkoholiker gäbe. (Den Drogen und dem Alkohol zugeneigte Autoren und sonstige Künstler gab es ja ebenfalls zuhauf, wie das heute ist, wage ich nicht zu beurteilen.) ...aber ich schweife ab ...

  • Zitat

    Original von Tom
    Nichtbiographische Romane sind immer "völlige Fiktion". Und du solltest die Leser - auch die von Heftromanen - nicht für dümmer halten als sie sind. :grin


    Viele Erzählungen folgen Konzepten, und es werden - auch unbewusst - "Regeln" eingehalten. Hierfür sind die - natürlich extremen - Heftromane durchaus exemplarisch. In vielen Genres (Fantasy, Horror) gelten unausgesprochene Gesetze, die mit der Realität (von den Genrevorgaben ansonsten abgesehen) wenig zu tun haben. Auch das Pro- und Antagonistenkonzept, das in der erzählenden Literatur häufig genutzt wird, entbehrt in dieser Form jeglicher Realität. Undsoweiter.


    Stimmt, ohne Wenn und Aber. Trotzdem mag ich Geschichten, die auf einem authentischen Erfahrungsschatz basieren und DANN modifiziert werden, wesentlich lieber als Geschichten, die die Realität ignorieren. Hierbei meine ich Geschichten, die den Anspruch haben, in der realen Welt zu spielen. Für das Fantasy-Genre gilt dies nicht – im Gegenteil, da wäre es vielleicht mal ganz schön, wenn's nicht immer die altbekannten Trolle, Elfen, Vampire etc. wären ...