All the things she said

  • All the things she said



    Das Licht, es gibt mir Hoffnung,
    es leuchtet hell und klar.
    Das Licht – unsere Freundschaft!
    Sie ist so wunderbar...


    Der handbeschriebene Briefbogen segelt langsam auf den Stapel Altpapier und die junge Frau lässt sich kraftlos auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Sie sieht sich in ihrem Zimmer um, lässt den Blick über die fast leeren Regale, das Chaos auf dem Schreibtisch und die Umzugskartons schweifen und seufzt traurig. Nun ist es also fast soweit, in wenigen Stunden wird sie ihre Sachen gepackt haben, ihr Elternhaus verlassen, in den kleinen VW steigen und nach Münster fahren, wo sie in zwei Wochen ihr Studium beginnt... ein neuer Lebensabschnitt fängt an. Ein neues Leben beginnen, die Vergangenheit hinter sich lassen... sie schaut wieder auf ihren Schreibtisch, auf dem sich alte Hefte, Tagebücher, Briefe und Aufzeichnungen stapeln, und seufzt noch einmal abgrundtief. Die Kladde mit schwarzem Einband, auf den sie vor ein paar Jahren mit silberfarbenem Stift das Peace-Zeichen und viele kleine Sterne gemalt hat, sticht ihr besonders ins Auge und sie kann einfach nicht widerstehen; zu groß ist das Bedürfnis, noch einmal ihre Tagebucheintragungen aus einer besseren Zeit zu lesen.


    Nachher treffen wir uns wieder im Chat. Ach, es ist so schön, mit ihr reden zu können! Ich kann gar nicht oft genug sagen, wie unendlich glücklich ich bin, dass wir uns gefunden haben... es ist wie ein Geschenk des Himmels, was uns da passiert ist!


    Eine Träne läuft Nadja über die Wange und wieder erinnert sie sich an die Zeit vor drei Jahren, als wäre es gestern gewesen. In einem virtuellen Chatroom war sie zufällig mit einer anderen Chatterin ins Gespräch gekommen, sie waren sich gleich sympathisch gewesen und hatten ihre eMail-Adressen ausgetauscht um in Kontakt zu bleiben... haben sich täglich gemailt und immer mehr gemeinsame Interessen festgestellt – auch ihre Meinungen und Einstellungen waren sich sehr ähnlich und es hatte sich in den nächsten Monaten eine wunderschöne und tiefe Freundschaft entwickelt... in dieser Zeit ist auch diese Tagebucheintragung entstanden, die diese wundervolle Verbindung zweier Menschen zeigt. Sie blättert langsam weiter und ihr Blick bleibt an einer weiteren Passage hängen.


    Unsere Gespräche sind immer wieder wie ein Lichtblick in der Dunkelheit des Alltags... Mit niemand anderem kann ich so offen sprechen, wir ticken genau auf der gleichen Wellenlänge... es ist wie eine Seelenverwandtschaft.


    Ja, eine Seelenverwandtschaft war es wirklich gewesen – noch nie zuvor hatte sie je das Gefühl gehabt, einem anderen Menschen so sehr vertrauen zu können; das Gefühl, dass Doreen alias Blue Angel, sie wie kein anderer Mensch verstand, ihre Meinungen über das Geschehen in der Welt und alles andere, ihre Träume und Hoffnungen, teilte, war überwältigend. Über alles, aber auch wirklich alles, konnten sie sich unterhalten, haben sich fast schon jeden Tag online getroffen... konnten alle ihre Sorgen miteinander besprechen, immer wieder hatte sie sich gegenseitig aufgebaut, wenn es der anderen schlecht ging; es war wirklich wie ein Lichtblick in der Dunkelheit. Der Text eines ihrer Lieblingslieder geistert durch ihre Gedanken.


    Was hast du mit mir gemacht, dass ich endlich wieder lach? Was hast du mir bloß getan, dass ich wieder leben kann?


    Ein verträumtes Lächeln huscht über Nadjas Lippen und sie blättert weiter in ihrem alten Tagebuch, kann einfach nicht anders, als wieder dieser Spur zu folgen, welche die Erinnerung an diesen wunderbaren Menschen in ihrer Seele hinterlassen hat; und als sie die nächste Seite umblättert, rutscht ein Foto heraus und fällt auf den Boden, mit der Rückseite nach oben. Sie greift nach dem Bild und dreht es langsam um, wohl wissend, was sie im nächsten Moment sehen wird: das fröhliche Gesicht Doreens, wie sie sich lachend ihre langen goldblonden Locken aus dem Gesicht streicht... das erste Foto, was Doreen ihr von sich gemailt hat.


    Ein Blick auf die Uhr lässt Nadja zusammenzucken – es ist schon spät und sie wollte eigentlich noch heute in Münster ankommen und schon einmal anfangen, sich in ihrem kleinen Appartement häuslich einzurichten. Nur noch die alten Tagebücher, Hefte und ein paar Kleinigkeiten liegen noch auf dem Schreibtisch, sie ist so gut wie fertig... nur noch diese letzten Sachen in einen Karton einpacken und sie kann fahren; von ihren Eltern hat sie sich schon vor ein paar Tagen verabschiedet, bevor sie in den Urlaub gefahren sind. Schweren Herzens legt sie das Foto zwischen die Seiten, die sie zuletzt überflogen hat, klappt das Tagebuch zu und legt es in den letzten offenen Umzugskarton; als sie ohne hinzusehen nach den anderen Büchern greift, ertasten ihre Finger statt dessen eine dünne flache Plastikhülle und sie sieht stirnrunzelnd die CD an, die zwischen die Bücher gerutscht ist – hatte sie ihre Musiksammlung nicht schon gestern in eine der vielen Kisten gepackt? – doch dann erkennt sie, um welche Scheibe es sich handelt und beißt sich auf die Lippen um nicht loszuschluchzen... das selbstgezeichnete Cover zeigt eine Friedenstaube und den blau-grün gewellten Schriftzug „Erinnerungen 1999-2000“, es ist die CD, die sie sich vor einiger Zeit von einer Schulfreundin brennen lassen hat, mit allen Liedern, die sie immer an die Zeit mit Doreen erinnern werden. Mit einem wehmütigen Gefühl beschließt Nadja, sich die CD gleich noch einmal im Auto anzuhören, auf der Fahrt in ihr neues, aufregendes Studentenleben; sie legt die letzten Bücher zusammen und beginnt, die vielen Umzugskartons nach draußen zu tragen und sie in ihrem Wagen zu verstauen.


    ***


    Zwei auf einem Boot
    Auf rauher See zusammen
    So stark, weil eine Hand die and´re hält
    Wohin der Sturm uns treibt
    Wie weit der Weg auch geht
    Ich bin gern mit dir gemeinsam unterwegs


    Die Stimmen des Duetts aus einer bekannten deutschen Seifenoper ziehen Nadja wieder in ihren Bann und auch wenn das Lied an sich keine besonders großartige musikalische Leistung ist, so läuft ihr doch jedes Mal eine Gänsehaut über den Rücken, wenn sie diese Zeilen hört. Genau dieses Gefühl hatte sie bei ihrer Seelenschwester immer gehabt – zusammen stark zu sein und gegen jeden Sturm ankommen zu können, zusammen jeden Weg beschreiten zu können...
    Sie merkt, wie ihr wieder die Tränen aufsteigen, und blinzelt sie schnell weg um sich nicht dadurch von der vor ihr liegenden Autobahn ablenken zu lassen, sie fasst das Lenkrad fester und ruft sich wieder in Erinnerung, dass sie es sich jetzt auf keinen Fall leisten kann, unaufmerksam zu sein... Eine falsche Bewegung und... um Gottes Willen, jetzt bloß nicht an so etwas denken! Ohne den Blick von den Autos vor ihr abzuwenden greift sie blindlings nach den Bedienungsknöpfen der eingebauten CD-Anlage und schaltet das nächste Lied ein.


    Wir haben beide denselben Stern
    Und dein Schicksal ist auch meins
    Du bist mir fern und doch nicht fern
    Denn unsere Seelen sind eins


    So nah und doch so fern... Wieder einmal stellt Nadja sich die Frage, über die sie so viel in den letzten Jahren nachgegrübelt hat: wie kann es sein, dass eine solche Verbindung – sie haben sich so nahe gestanden, dass man wirklich hätte meinen können, ihre Seelen wären eins, sie wären seelische Zwillinge – sich aus einer solchen Distanz heraus entwickeln kann. Sie haben immer nur durchs Internet Kontakt zueinander gehabt... zu einem realen Treffen war es nie gekommen. Bei dem Gedanken verzieht Nadja schmerzerfüllt das Gesicht. Geplant war es schon gewesen, sie hatten darüber gesprochen, sich bei einem Chattertreffen zu treffen, das für den Anfang 2001 geplant war, soweit war es aber nicht gekommen...
    Die letzten Töne von Zarah Leanders uraltem Schlager verklingen und das nächste Lied setzt ein, woraufhin Nadja erschrocken zusammenzuckt – als sie die Mädchenstimmen erkennt, kann sie kaum noch die Tränen zurückhalten.


    All the things she said
    running through my head...


    Immer wieder und immer wieder muss sie daran denken, was Doreen bei ihrem letzten Chat gesagt hatte... sie hatten über das bevorstehende Treffen gesprochen, sich schon riesig darauf gefreut, einander endlich mal real gegenüberzustehen; Doreen hatte versprochen für sie beide eine Mitfahrgelegenheit nach Frankfurt zu organisieren, wo das große Chattertreffen stattfinden sollte. Alles war in bester Ordnung, alles war wie immer und sie hatten abgemacht, sich am übernächsten Tag wieder online zu treffen, doch als Nadja sich zum verabredeten Zeitpunkt im Chat einloggte, war Doreen nicht da und über eine Stunde wartete Nadja vergeblich auf sie. Als ihr klar wurde, dass Doreen an diesem Abend nicht mehr auftauchen würde, war sie leicht besorgt, versuchte sich aber mit dem Gedanken zu beruhigen, dass sicher etwas dringendes dazwischengekommen ist und Doreen einfach nur keine Zeit gehabt hatte ins Internet zu gehen und ihr Treffen für den Abend abzusagen. Doch als Nadja am nächsten Tag wieder online ging, war immer noch keine Nachricht von Doreen gekommen und sie schrieb besorgt ihr eine kurze Mail, fragte, was passiert war und warum sie sich nicht meldet. Die nächsten Tage rief Nadja praktisch jede Stunde ihre Mailbox ab, aber es kam immer noch keine Nachricht und auch im Chat tauchte Doreen nicht mehr auf. In diesen Tagen wurde es Nadja erschreckend klar, dass sie eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte, wer ihre Seelenschwester in Wirklichkeit war. Sie hatten einander nie ihre Nachnamen gesagt und die Information, dass sie mit Vornamen Doreen heißt, aus einer Kleinstadt nahe bei Düsseldorf kommt und in die elfte Klasse eines Gymnasiums geht, war in Wirklichkeit so vage, dass es bestimmt nicht reichen würde um sie zu finden. Ihre eMail-Adresse hatte Doreen bei einem anonymen Internet-Anbieter, sodass es auch auf diesem Weg keine Möglichkeit gab sie zu finden. Viele schlaflose Nächte lang surfte Nadja durchs Internet und versuchte irgendeine Spur von Doreen zu finden – wissend, dass sie in einigen Chatrooms unter dem Nickname Blue Angel angemeldet war – doch es war, als wäre sie nie online gewesen, in keinem Chat tauchte sie wieder auf und niemand von den wenigen Chattern, die Doreen gekannt hatten, wussten, wo sie war. Jeden Tag verfolgte Nadja ängstlich die Nachrichten, in dem Gedanken, dass ihr irgend etwas zugestoßen war, und achtete besonders auf Meldungen über vermisste Jugendliche, verschiedene Tragödien, aber der einzige Fall in dieser Zeit war ein kleiner Junge, der auf dem Schulweg entführt worden war...
    Lange Zeit wartete Nadja vergeblich auf irgendwas, irgendeine Nachricht, doch es passierte nichts und sie setzte ihre letzte verzweifelte Hoffnung in das Chattertreffen, wo Doreen und sie hatten zusammen hingehen wollen, doch an diesem Abend wurde auch der letzte Rest ihrer Hoffnungen zerschlagen – Doreen kam nicht zu dem Treffen und Nadja sah ein: das alles hatte einfach keinen Sinn; irgend etwas musste Doreen zugestoßen sein, aber weil sie voneinander nur die Vornamen und eMail-Adressen wussten, war wahrscheinlich niemand auf die Idee gekommen ihr bescheid zu sagen... wenn überhaupt jemand von Doreens Familie oder Freunden von ihr gewusst hatte. Immer wieder stellte Nadja sich die quälende Frage, was da wohl passiert sein mochte, das ihre gemeinsame Zeit so plötzlich beendet hatte, aber eine Möglichkeit war schlimmer als die andere und so war sie in ihrer Verzweiflung fast durchgedreht... hatte all ihre Lebensfreude verloren, las immer wieder die alten elektronischen Briefe, die sie einander geschickt hatten, hörte nur noch die Lieder, die sie an bessere Zeiten erinnerten, brach den Kontakt zu fast allen ihren anderen Freunden ab und verkroch sich zuhause. Wie durch ein Wunder schaffte sie es gerade noch, dass ihre Schulnoten nicht völlig in den Keller sanken und wenn ihr Abiturzeugnis am Ende auch nicht besonders gut ausgefallen war, konnte sie sich doch ihren lang gehegten Traum erfüllen nach Münster zu ziehen um Ägyptologie zu studieren. Bei dem Gedanken verzieht Nadja unwillkürlich das Gesicht. Ob es wohl wirklich so eine gute Idee war sich gerade für Ägyptologie einzuschreiben? Immerhin ist gerade das auch etwas, das sie immer an die Person erinnern wird, von der sie nun über zwei Jahre lang nichts mehr gehört hat und die sie doch niemals vergessen wird, weil sie doch lange Zeit der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war. Die Geschichte und Kultur der alten Ägypter war eines ihrer gemeinsamen Interessen, oft hatten sie sich ausgemalt später auf die gleiche Universität zu kommen und zusammen zu studieren... war es wirklich so gesehen wirklich eine gute Entscheidung gewesen, sich den Traum vom Ägyptologie-Studium zu erfüllen? Eigentlich hatte Nadja ja einen Neuanfang machen wollen, alles hinter sich lassen... so wird sie doch nur immer wieder daran erinnert, wie schön alles hätte sein können... zu schön um wahr zu sein. Doch tief in ihrem Herzen spürt sie, dass sie das Richtige getan hat – sie konnte doch nicht einfach irgendwas anderes suchen und versuchen vor der Erinnerung wegzulaufen. Die Erinnerung an die Zeit mit Doreen wird so oder so immer in ihr weiterleben, auch wenn sie, durch welche Umstände auch immer, den Kontakt zueinander verloren haben.
    Endlich sieht Nadja das Hinweisschild auf die Autobahnausfahrt, die sie nehmen muss, und setzt den Blinker nach rechts...


    ***

  • Sie sitzt draußen an einem der Tische vor einer Cafeteria auf dem Campus und genießt die letzten Sonnenstrahlen dieses Jahres. Ihr Blick schweift über die vorbeigehenden Leute und sie denkt an die erste Vorlesung, die sie gerade hinter sich hat, doch ein merkwürdiges Gefühl lässt sie zusammenzucken. Ein Prickeln in ihrem Nacken scheint ihr zu sagen, dass hinter ihr etwas ist... dass jemand sie anstarrt? Sie dreht sich etwas zur Seite und sieht unauffällig nach hinten, aber ihr fällt nichts besonderes auf – die Cafeteria ist ziemlich gut besucht, alle Tische sind besetzt, aber das ist für die Mittagszeit auch nichts ungewöhnliches... doch dann sieht sie ein paar Meter von sich entfernt eine Person alleine an einem der Tische sitzen, die schnell den Blick abwendet. Die Sonnenbrille verdeckt ihr Gesicht und Nadja kann sie nicht erkennen, doch irgend etwas an dieser Gestalt kommt ihr bekannt vor. Die junge Frau streicht sich ihre kurzen blondgelockten Haare aus dem Gesicht und scheint sich wieder in die vor ihr liegende Zeitung zu vertiefen; Nadja runzelt nachdenklich die Stirn. Spielt ihre Wahrnehmung einen blöden Streich oder hatte diese Frau sie wirklich intensiv angesehen, bevor sie sich umgedreht hat? Angestrengt überlegt sie, ob es nicht irgendeine Bekannte von ihr sein könnte... aber sie kennt doch bisher noch niemanden hier in Münster... Nachdenklich sieht sie noch einmal hin. Was ist es nur, dass ihr so bekannt an dieser Person vorkommt? Doch dann, als die Andere ihre Sonnenbrille abnimmt und noch einmal in ihre Richtung schaut, verschluckt sich Nadja fast an ihrem Kaffee. Ist das nicht...? Könnte es möglich sein, dass...? Sie kann kaum einen klaren Gedanken fassen und kämpft mit sich selbst. Soll sie hingehen und die Frage stellen, die ihr auf der Seele brennt, oder es sein lassen? Vielleicht macht sie sich ja total lächerlich... aber sie glaubt zu erkennen, wo sie dieses Gesicht schon mal gesehen hat... kann es wirklich möglich sein?



    (2003)

  • Hmm.. irgendwie macht mich die Geschichte ein wenig nachdenklich.
    Zu gerne wüsste ich, wie es jetzt weiter geht.
    Wird Nadja die junge Frau ansprechen?
    Ist sie vielleicht wirklich Doreen?


    Ansonsten finde ich sie ganz gut.
    Abgesehen davon, dass ich Nadja ein wenig zu "weinerlich" finde. Es ist zwar wirklich traurig, dass sie eine so gute Freundin verloren hat, aber da sie jetzt schon "über zwei Jahre" keinen Kontakt mehr hatten, finde ich es ein wenig übertrieben, dass sie dauernd fast anfangen muss zu weinen.
    Das ist aber eigentlich so das Einzige, was ich zu nörgeln habe. ;)

    Auf meinem Nachttisch liegt: "Erzähler der Nacht" von Rafik Schami
    Schullektüre: "Frau Jenny Treibel" - Theodor Fontane & "Treasure Island" von Robert Louis Stevenson