Die Containerfüchse - Bernd Schreiber (ab ca. 11 J.)

  • Das ist ja wohl die Höhe, findet Florian. Erst faucht sie einen aus heiterem Himmel an, dann beobachtet man sie beim Klauen und dann bringt sie einem auch noch den Rucksack zurück, den man liegengelassen hat. Und als ob das nicht genügte, darf man auch noch ihre schweren Tüten schleppen. Aber zu dem Zeitpunkt steckt Florian schon mitten drin in der Geschichte von Svenja. So heißt sie nämlich, die fauchende diebische ehrliche Finderin.
    Hinter Svenja steckt weit mehr, als ihr Auftreten vermuten läßt. Das Geheimnis sind die Tüten, deren Inhalt, so stellt Florian zu seinem großen Erstaunen fest, aus Containern hinter den Supermärkten stammt. Zunächst kann er sich gar nicht vorstellen, was es damit auf sich hat. Der Kühlschrank bei ihm zuhause ist stets gut gefüllt, der Tisch immer reich gedeckt. Nie hat er darüber nachgedacht, daß das bei anderen anders sein könnte.
    Aber Lebensmittel aus Containern wühlen? Das ist aber nicht die einzige Überraschung, mit der Svenja aufwartet. Sie hat aus dem Sammeln von Lebensmitteln ein regelrechtes Geschäft entwickelt, an dem eine ganze Reihe von Leuten beteiligt ist. In wenigen Tagen nur lernt Florian Menschen kennen, deren Lebensgeschichten mehr als bunt sind. Es fasziniert und verwirrt in gleichermaßen, am Ende so sehr, daß er in einer heiklen Situation die falsche Entscheidung trifft. Gäbe es Opa nicht, dem man alles erzählen kann, hätte die Geschichte unschön ausgehen können. Es wird auch so noch schlimm genug. Aber Opa rettet die Sache und am Ende wird alles weit großartiger, als es sich Florian und Svenja je hätten träumen lassen.


    In diesem Kinderbuch geht es um Armut in Deutschland, nicht nur um Kinderarmut, wie die Verlagswerbung behauptet. Svenja, die elfjährige Heldin der Geschichte, gehört zwar auch zu den ‚Armen’, ihre Rettungsaktion gilt aber keineswegs nur Kindern. Die Handlung kommt ein wenig schwerfällig in Gang, Florian, der Ich-Erzähler, hat eine Neigung zu einer große Klappe, einen Hang zu dummen Sprüchen, die ihn als Elfjährigen charakterisieren mögen, in Gesamtumfang des eher knapp angelegten Romans aber Platz verschwenden. Svenja kommt weit natürlicher daher.
    Der Autor, mit einem Hintergrund in Theologie und Pädagogik, hat ein politisches Thema für dieses Kinderbuch gewählt, herausgekommen ist aber sicher kein politisches Kinderbuch, wie man es aus den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kennt. Er geht das Thema eher humanistisch-philanthropisch an. Es ist Opas Idee am Ende, die dem Ganzen doch ein wenig gesellschaftliche Bedeutung verleiht. Ich habe den Verdacht, daß Opa so seine eigenen Erinnerungen an die 68er hat.


    Kritisch zu sehen ist vor allem die Darstellung der ‚Armen’. Ihre Lebensläufe mögen sehr interessant klingen, aber es sind Ausnahme-Menschen. Hier wird romantisiert. Das liest sich spannend, ist aber gefährlich, weil es über den Umstand hinwegtäuscht, daß Armut nicht nur eine Folge ausgefallener Berufe ist, sondern durchaus ein Massenphänomen. Überdies klingt damit eine alte Auffassung an, nämlich die, daß ‚arme Menschen’ anders sind, was dann hier positiv gewertet, tatsächlich aber sentimental verklärt wird, als seien arme Menschen besonders begabt, besonders aufgeschlossen, besonders interessant, von einem eigenem Wert, der noch dazu Abenteuer verspricht.
    Der Autor merkt das und versucht auch, dem entgegenzuwirken, das muß man anerkennen. Das Ganze aber folgt einem recht gefährlichen moralischen Schlingerkurs, der gerade in einem Kinderbuch in einer Zeit, in der Unterhaltung so groß geschrieben wird, in die falsche Richtung führen kann. Dazu gehört auch die Entscheidung, Florians tollen Opa zuletzt noch emotional in Svenjas Netzwerk zu verstricken. Hier läßt nicht nur Kästners ‚Fliegendes Klassenzimmer’ grüßen, das hat auch den Beigeschmack von sofortiger materieller Belohnung einer guten Tat, woran man Kinder nicht unbedingt gewöhnen sollte.
    Daß an keiner Stelle über die Gründe von Armut in Deutschland gesprochen wird, daß keine Zusammenhänge aufgezeigt werden, sondern nur an ein menschliches Miteinander appelliert, trägt dazu bei, das Ganze eher in hoffnungsvoll-rosige Schleier zu hüllen als aufzuklären.


    Kritisch betrachtet werden sollte gleichfalls die Beziehung zwischen Svenja und Florian. Sie agieren recht natürlich, bis dem Autor, leider frühzeitig, einfällt, eine Liebesgeschichte in die Handlungsablauf hineinzuspinnen. So haben wir zuerst eine sehr selbstbewußte und einfallsreiche Elfjährige und einen zwar etwas frechen, aber tatsächlich ziemlich hasenherzigen, weil sehr verwöhnten gleichaltrigen Jungen. Im Lauf der Liebesgeschichte aber fallen beide mehr und mehr in erschreckend altertümliche Rollenmuster zurück. Svenja wird immer schwächer, Florian wird zum klassischen Kavalier und Ritter aufgebaut. Das ist völlig unzeitgemäß und, daran gemessen, daß es sich hier um elfjährige Kinder handelt, an manchen Stellen auch unangenehm zu lesen.


    Diese Kritikpunkte machen dieses Kinderbuch nicht völlig schlecht. Die Geschichte ist durchaus spannend, sie ist auf jeden Fall originell. Sie ist nach ersten Anlaufschwierigkeiten und trotz einiger sprachlichen Unbeholfenheiten vor allem auf den ersten Seiten insgesamt gut erzählt und flott lesbar, ohne flapsig zu sein. Florian, Svenja, Opa und einige weitere auftretende Personen sind Figuren, die einer im Gedächtnis bleiben.
    Das Buch hat ein gewisses Gewicht, weil es ein gewichtiges Thema behandelt. Es macht auf jeden Fall auf etwas aufmerksam, das täglich geschieht und mit dem man sich nicht gern freiwillig auseinandersetzt. Das ist auf jeden Fall ein Verdienst und kein geringes.
    Man kann das Buch durchaus lesen und auch Kinder lesen lassen. Man sollte es aber kritisch lesen und die Augen nicht vor den Mängeln verschließen.
    Armut ist eben ein politisches Thema. Es beim unpolitischen Abhandeln zu belassen, hieße, alles beim Alten zu lassen. Das kann sich niemand wünschen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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