Stein der Geduld - Atiq Rahimi

  • Titel: Stein der Geduld
    Originaltitel: Syngué Sabour
    Autor: Atiq Rahimi
    Verlag: Ullstein
    ISBN: 9783550087868
    Preis € 18,00


    Autorenporträt:
    Atiq Rahimi, 1962 in Kabul geboren, studierte Literatur an der dortigen Universität. Während des Afghanisch-sowjetischen Krieges floh er 1984 über Pakistan nach Frankreich.
    Neben dem Schreiben ist er vor allem als Dokumentarfilmer tätig. 2002 erschien sein international vielbeachteter Roman Erde und Asche, der 2004 verfilmt wurde. Für Stein der Geduld, das erste Buch das Rahimi auf Franösisch schrieb, erhielt er 2008 den Prix Goncourt.



    Pressestimmen
    »Das am schönsten geschriebene Buch der Saison.« Nouvel Observateur »Eine Hymne an die Freiheit und die Liebe.« Le Figaro


    Kurzbeschreibung
    Ein Mann liegt im Sterben. Seine Frau sitzt bei dem Bewusstlosen und beginnt zu erzählen von Demütigung und Unterdrückung, von alltäglichen Grausamkeiten und vom Drama ihrer Ehe. Die kraftvolle Sprache, die eindrücklichen Bilder wirken wie ein Schrei, der die Stille zerreißt.In einem Dorf irgendwo in Afghanistan sitzt eine Frau am Bett ihres schwerverletzten Mannes, der im Koma liegt. Im Zimmer ist es still, draußen hört man Schüsse, die Frau betet. Dann beginnt sie zu reden. Sie erzählt ihm, was sie ihm vorher nie sagen konnte, sie berichtet dem reglos Daliegenden von dem Drama, das die Ehe für sie bedeutet. Wie dem magischen »Stein der Geduld« aus der afghanischen Mythologie vertraut sie ihm ihren Schmerz an und beichtet ein Geheimnis, das sie seit langem bedrückt. Doch auch die Geduld eines Steins ist nicht unendlich. Atiq Rahimi hat ein großes, eindrucksvolles Buch geschrieben, erzählt in einer wunderbar klaren und poetischen Sprache.


    Meine Meinung:
    Eine namentlich nicht genannte Frau sitzt am Lager ihres schwer verletzten Mannes. Sie ist verzweifelt, sie ist wütend, gedemütigt.
    Und sie schreit ihm all dies entgegen und ernennt ihn zu ihrem "Stein der Geduld" wie in der afghanischen, mythologischen Geschichte. Plötzlich kann sie ihm alles erzählen ohne unterbrochen, ohne beschimpft zu werden. Ihre Gefühle schwanken zwischen Trauer, Hass und Liebe. Nie zuvor konnte sie ihren Mann so berühren wie sie es jetzt tut, nie zuvor konnte sie so offen sein.
    Das Buch, 166 Seiten kurz, hatte streckenweise die Beklommenheit eines Kammerspiels.


    "Auf einmal ist die Frau wieder da. Mit düsterem Blick. Zitternden Händen. Sie geht auf den Mann zu. Bleibt stehen. Atmet tief durch. Mit einer heftigen Bewegung packt sie den Schlauch. Schließt die Augen und zieht ihn aus seinem Mund. Dreht sich um, die Augen noch immer geschlossen. Macht ein paar Schritte. Schluchzt: "Gott vergib mir!", nimmt ihren Schleier und verschwindet."


    Trotz der reduzierten Sprache berührte mich das Buch sehr und ich vergebe 9 von 10 Punkten (dk)

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Eine Rezi die sehr neugierig auf dieses Buch macht. Herzlichen Dank dafür. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Die Beklommenheit, von der FrauWilli sprach, hatte ich das ganze Buch über. Die Frau, wie sie in der Geschichte nur genannt wird, erzählt ihrem bewusstlosen Mann ihre kleinen und großen Geheimnisse. Es befreit sie fast und sie kann kaum damit aufhören. Es macht ihr aber auch Angst. Die Demütigungen und die Unterdrückung die sie von ihm, aber auch von ihrer und seiner Familie ertragen musste, ist kaum zu ertragen. Am Rande erfährt man noch etwas über den "Alltag" in diesem Land.


    Dieses schmale Buch hat mich sehr erschüttert.


    Von mir gibt es 10 Punkte!!!

  • „Die Stimme, die aus meiner Kehle kommt,sei die Stimme, die seit Tausenden von Jahren verschüttet ist.“
    (Seite 165)


    Eine Frau beginnt, die eigene Stimme zu erheben, zu gebrauchen, Gedanken in Worte zu fassen, weil der, nein ihr Mann schweigt, schweigen muss, weil keine Worte die Barriere seiner Lippen überwinden können, weil sein Körper nicht mehr reden kann, die Hände, die schlagen, sich nicht mehr bewegen können, weil jede Bewegung erstarrt ist.
    Eien Frau, namenlos, stellvertretend für viele, viel zu viele, verliert sich in ihren Worten, verliert die festgefügte Rolle, verliert die Gewissheit, in dieser Rolle verhaftet, gefangen zu sein, verliert sogar den Trost und den Schutz des Gebetes, so dass nur noch Geste bleibt. Und versucht sich doch auch wiederzufinden, verwandelt, befreiter, unduldsamer, kann aber, so scheint mir, sich vom einen nicht ganz lösen, kann das andere nicht vollständig annehmen – wie auch in dieser Gesellschaft, in der Frauen derart, so „gnadenlos“ (Seite 5, Vorwort und Khaled Housseini) unterdrückt werden. Aber: Was bleibt dann für sie, wo bleibt sie?


    Ein Kammerspiel von einer für mich unglaublichen Eindrücklichkeit, auch wenn immer wieder der (Bruder-/Bürger-)Krieg in Afghanistan eindringt in diesen Raum, der als so schmucklos, so fast kalt dargestellt wird, dass es mir als Sinnbild dieser Ehe vorkam. Rahimi muss nicht viele Worte machen, um jene Welt vorzustellen, so vollkommen anders als meine, mir in ihrer Konsequenz kaum vorstellbar. So scheinbar schlichte Sätze, und doch beschwören sie das Grauen des Krieges und den (für mich alptraumhaften) Alltag einer afghanischen Frau herauf. Eine so scheinbar karge Sprache, und doch entstehen Bilder von unglaublicher Intensität. So wenige Worte, doch wie viele „Geschichten“ in der Geschichte, viele wie Metaphern, sei es der abhanden gekommene Koran, seien es die Ameisen und die Spinne, sei es das Foto an der Wand.


    „... wer sich nicht auf die Liebe versteht, macht Krieg.“
    (Seite 138)


    Welch ein entsetzlicher Satz, doch das eigentlich Entsetzliche an ihm ist, dass er allzu oft zutrifft. Krieg, nicht nur in der gewalttätigen Form zwischen Ländern, zwischen Volksgruppen, Krieg auch innerhalb von Familien, von Ehen, den Geschlechtern. Krieg führen, um beherrschen zu wollen, Macht ausüben zu können – um jeden Preis. Was das in der afghanischen Gesellschaft bedeuten kann, hat mir dieses schmale Bändchen gezeigt, deutlicher noch als „Drachenläufer“ oder „Tausend strahlende Sonnen“ von Khaled Housseini.


    Beworben wird das Buch auch damit, dass es 2008 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Aber es hat noch viel mehr verdient, nämlich viele, viele Leserinnen und Leser, die sich auf den ganz eigenen Zauber dieses Buches einzulassen bereit sind.


    Für mich ist dieses Buch eines der Highlights des Jahres.