"Die Haarschublade" von Emmanuelle Pagano

  • Klappentext:
    Ein kleiner Ort im Süden Frankreichs. Fünfter Stock. Eine sehr junge Frau mit zwei Kindern. Ein alltägliches, kein gewöhnliches Leben. Emmanuelle Pagano erzählt die Geschichte einer unerwiderten, unerwiderbaren Liebe.


    Über die Autorin:
    Emmanuelle Pagano wurde 1969 im Département Aveyron geboren, studierte Filmwissenschaft und Filmästhetik. Sie lebt im Süden Frankreichs und ist Mutter von drei Kindern. Fünf Romane hat sie bereits veröffentlicht und für ihre einzigartige, sinnliche écriture in Frankreich bereits mehrere Preise erhalten. Für ihren neusten Roman "Die Haarschublade" erhielt sie soeben den Europäischen Literaturpreis für aufstrebende Talente.


    Meine Meinung:
    Nie habe ich Pierres Stimme anders als dumpf oder grell gehört, bohrend wie Kopfschmerz, wie Bauchweh. Ich frage mich, welche Stimme er wohl hätte, wenn er zum Beispiel singen, Worte sprechen würde, oder einfach nur Doppelsilben, wie Titouan, als er fünf sechs Monate alt war. Diese Stimme, die ich nicht kenne, fehlt mir.


    Aufgewachsen in der Gendameriekaserne eines südfranzösischen Dorfes, in der ihr Vater als Gendarm arbeitet, rebelliert die Ich-Erzählerin schon früh gegen diese enge Welt, gegen diesen Alltag, in dem Pünktlichkeit und Sauberkeit die obersten Regeln sind, und es am wichtigsten ist, vor den Nachbarn den Schein zu wahren. Sie reißt aus und schließt sich einer Clique an, mit der sie manchmal wochenlang in einem einem alten Kriechkeller unter einer Kelterei lebt. Die Tage werden mit Nichtstun am Strand oder in den Weinbergen verbracht. Ihre einzige Leidenschaft sind Haare und ihr Traumberuf Friseuse. Dann wird sie mit knapp fünfzehn das erste Mal schwanger - und bewältigt völlig auf sich allein gestellt die Schwangerschaft, die sie vor ihrer Umwelt verbirgt. So erfahren ihre Eltern erst davon, als das Krankenhaus nachts bei ihnen anruft und um die Erlaubnis für einen Kaiserschnitt bittet. Doch da ist es bereits zu spät und das Baby wegen Sauerstoffmangel schwerstbehindert.


    Pierre wächst zunächst bei den Großeltern auf. Und wieder zählt nur, so lange wie möglich den Schein zu wahren - Mein verpfuschtes Baby mit dem abwesenden Gesicht, ich fragte mich, wie meine Mutter ihm ein Leben vorlügen konnte, nur weil es hübsch und so blond war. Die namenlose Ich-Erzählerin bricht erneut aus der Welt der Gendarmeriekaserne aus, lebt für ein paar Monate mit einem viel älteren Mann zusammen, dann wieder mit der alten Clique. Und wieder endet dieser Ausbruch aus der Enge mit einer Schwangerschaft. Doch die Ich-Erzählerin stellt sich ihrem "verpfuschten" Leben. Sie arbeitet als Hilfskraft in einem Friseursalon und mietet sich eine eigene kleine Wohnung. Dort lebt sie mit ihren beiden Kindern, deren Erziehung sie selbst wachsen und reifen lässt. Als ihre Mutter für Pierre einen Heimplatz organisiert, muss die Ich-Erzählerin eine Entscheidung treffen.


    Emmanuelle Pagano hat ein leises, subtiles, fein komponiertes Buch geschriebent. Die Beiläufigkeit, mit der die junge Frau aus ihrem Leben erzählt, lässt keine Betroffenheit oder Verklärung aufkommen, und hat mich gerade in dieser Beiläufigkeit umso mehr berührt. Die Sprache ist klar und direkt, und drückt mit den kurzen, einfachen Sätzen wunderbar die Einsamkeit der jungen Frau aus - offenbart aber auch die Einschränkungen ihrer sozialen wie persönlichen Sichtweisen, die durch das enge Leben in der Gendarmerie, das Leben mit ihren Eltern geprägt wurden.


    Ich werde mir sehr bald das erste Buch dieser Autorin zulegen - "Der Tag war blau".


    Liebe Grüße
    Lille

  • Vielen Dank für die Rezension! Ich bin so neugierig geworden, dass ich mir das Buch selbst zugelegt und auch gleich gelesen habe.


    Der Rezension von Lille gibt es kaum etwas hinzuzufügen. Ich bin ebenfalls begeistert von dieser Geschichte. Eine Geschichte, die kaum 130 Seiten hat, extrem minimalistisch aufgebaut ist (knappe Sätze, kurze Kapitel, große Schrift) und dabei einen tiefen Eindruck hinterlässt.


    Sehr interessant finde ich die Motivation der Autorin zu diesem Buch. Sie selbst hat diese Frau gekannt und beobachtet. Diese Beobachtungen hat sie nun ohne Verrat an der Protagonistin zu begehen auf eine ergreifende Art und Weise aufgenommen und festgehalten, wobei sie nie den Fokus auf den Hintergrund der Ich-Erzählerin verliert.


    Ein bisschen bemängeln würde ich einige wenige Ansätze, die Pagano meiner Meinung nach, nicht zu Ende gedacht hat. Die Abschnitte über den Ausbruch der Ich-Erzählerin aus ihrem konventionellen Umfeld berühren weit weniger als die über ihre wachsende Mutterrolle. Generell steckt schon im Stil der Erzählung eine große Passivität, der sie an diesen Stellen nicht genügend entgegen kommt.



    Fazit: Ein stark beeindruckendes Buch über eine junge, alleinerziehende Mutter, ihrem täglichen Alltagskampf und der späten aber starken Mutterliebe zu ihrem behinderten Kind. Absolut lesenswert!