Sibirische Erziehung - Nicolai Lilin

  • Der Autor
    Nicolai Lilin, geboren 1980 in der Stadt Bender in Transnistrien, kam 2003 nach Italien, ins piemontesische Cuneo, wo er als Tattoo-Künstler lebt.


    "Sibirische Erziehung" ist Nicolai Lilins erstes Buch, erschienen 2009. Nicht zuletzt durch die enthusiastische Besprechung Roberto Savianos, Autor des Mafia-Bestsellers Gomorrha, wurde dieser Bericht von einer faszinierend unwahrscheinlichen Welt des »ehrbaren Verbrechens« zu einem sensationellen Erfolg.


    Kurzbeschreibung
    Anschaulich und direkt, stolz und nicht ohne Selbstironie erzählt Nicolai Lilin, Abkömmling der sibirischen Urki, eines Kriminellenclans, in seinem ersten Roman, einer Abfolge verblüffender, teils atemberaubender Geschichten, vom Aufwachsen in Transnistrien, wohin die Urki 1938 auf Stalins Befehl umgesiedelt wurden, und von der Urki-Erziehung, die aus ihm den lebenden Widerspruch eines »ehrbaren Kriminellen« machen sollte. Die Kinder sammeln ihre Erfahrungen in Kämpfen mit Jugendbanden und mit der Polizei. Dolche und Molotowcocktails, bald auch Pistolen kommen zum Einsatz. Vom Straflager sprechen sie wie andere vom Militärdienst oder den sonstigen Aussichten eines Erwachsenenlebens. Die Alten dagegen, die »Großväter«, bringen ihnen durch selbst erlebte und beglaubigte Exempel Freundschaft, Loyalität, Freigebigkeit und die Pflicht, Kinder, Alte und Behinderte zu schützen, bei - sowie die strengen Urki-Regeln erlaubter Gewaltanwendung.



    Meine Meinung
    Zunächst habe ich einige Seiten gebraucht um in diese Geschichte, in diese merkwürdige fremde Welt hineinzufinden. Erstmal befremdlich klingen diese immer wiederkehrenden Begriffe: "ehrbare Kriminelle", "kriminelle Würde", "das kriminelle Gesetz", "kriminelle Autoritäten", "ehrbare Waffen" sowie "unehrbare Waffen", Polizisten werden herablassend nur als "Köter" bezeichnet, es ist verboten mit ihnen zu sprechen. Geld ist "Dreck" und darf nicht angefasst werden, dies steht ja in absolutem Widerspruch zu dem, was man sonst mit Kriminalität - Aneignung von fremdem Eigentum zu Vermehrung des eigenen Reichtums - verbindet. Diese Welt der Urki ist gewalttätig und brutal. Gewalt darf aber nur nach festen Regeln verübt werden, wer dagegen verstößt wird streng bestraft. Raub oder Mord an "Kötern" ist "ehrenvoll", Zuhälterei dagegen ist unrein, wer so etwas ausübt hat keine kriminelle Würde und gehört zu den Ausgestoßenen. Diese kriminellen Gesetze sind kompliziert, enthalten aber doch eine merkwürdige Logik. Die "ehrbaren Kriminellen" sind stolz auf ihre sibirische Herkunft, sie sind orthodox-gläubig, Ikonen sind wichtig, und "der Herr und Jesus Christus" werden oft angesprochen, wie aber Nicolai auch mit einem leichten Augenzwinkern erzählt, sie sind orthodox-gläubig mit einem starken heidnischen Einschlag.


    Nach einer Weile des Lesens habe ich dann aufgrund der russischen Geschichte auch den Hintergrund der Entstehung dieser Welt der "ehrbaren Kriminellen" nachvollziehen können. Im Zarenreich lebten goße Teile der Bevölkerung in Armut und Elend, dann kamen der erste Weltkrieg und die Russische Revolution, Kommunismus, Stalinismus und die Zustände in der Sowjetunion. Zu keiner Zeit - vom russischen Reich über die Zeit der Sowjetunion, vielleicht sogar bis heute - waren Menschenrechte wirklich anerkannt. Das maßgebliche Gesetz war bis in das 20. Jahrhundert eher, dass ein Menschenleben billig ist, und durch staatliche Autorität schnell ausgelöscht werden kann.


    Die Gesellschaft der sibirischen Urki, dieser "ehrbaren Kriminellen", kann man also nicht mit dem Maß eines modernen Rechtsstaats messen, wie wir ihn kennen und gewohnt sind. Die Urki erkennen kein staatliches Gesetz an, die Freiheit des Einzelnen ist absolut und muss verteidigt werden, staatliche Gesetze und "Köter" müssen bekämpft werden, und einen "Köter" zu töten ist ja ehrenvoll.


    Für die Kinder der Urki ist Gewalt etwas alltägliches, sie lernen von kleinauf, Tiere zu töten, deren Fleisch für die Mahlzeiten verwendet wird und irgendwann kommt der Punkt an dem Gewalt gegen Menschen genauso "normal" wird. Die Jungen prügeln sich oft, es gehört mit zu ihrer Erziehung, ihrem Ehrgefühl, sich von Jungen aus anderen Stadtvierteln oder Gruppenzugehörigkeiten nichts gefallen zu lassen.


    Schulbesuch wird bis kurz vor dem Ende des Buches nie erwähnt, sodass man sich als Leser schon fragt, ob die Kinder der Urki überhaupt zur Schule gegangen sind, oder ob sie für notwendige formale Bildung so eine Art "Heimunterricht" erhalten haben. Erst zum Schluss des Buches erfährt man, dass Nicolai normal zur Schule gegangen ist, aber zur "sibirischen Erziehung" gehörte die dort verbrachte Zeit wohl nicht und wurde daher anscheinend nicht für erwähnenswert erachtet. *g*


    Auch Nichtblutsverwandte werden ehrerbietig Großvater, Onkel oder Tante genannt. Großvater Kusja ist eine kriminelle Autorität und Nicolai besucht ihn oft und gerne und lässt sich Geschichten von früher erzählen.


    Im Buch kommen Eisenbahn und Autos vor, irgendwann fast zum Schluss wird mal ein Mobiltelefon erwähnt und noch später, dass Nicolais Freund Mel auch einen Gameboy hat. Ansonsten könnte man während der Erzählung manchmal fast annehmen, "Sibirische Erziehung" spielt vor einem halben Jahrhundert. Die Kinder und Jugendlichen sind viel draußen, gehen zum Fischen, Nicolai hat zwei eigene Boote, die Kinder spielen Streiche, prügeln sich mit den Jungs aus der Nachbarschaft, man erwartet fast, dass Tom Sawyer und Huckleberry Finn gleich um die Ecke wohnen - aber dann wird die Gewaltspirale schon unter den 13jährigen plötzlich so angezogen, dass es mit der scheinbaren Idylle schlagartig vorbei ist. Jugendstrafen werden für die Entwicklung als "normal" angesehen, als Vorbereitung später für den Knast, die Aufenthalte dort werden im Leben eines ehrenwerten Kriminellen ebenso als "normal" angesehen. Die Beschreibung der Zustände während Nicolais Aufenthalt in der Jugendstrafanstalt ist schon ziemlich heftig.


    Ein Kapitel widmet sich der Philosophie des Tätowierens. Tätowierungen sind für die Urki kein beliebiger Körperschmuck, sondern sie erzählen die Geschichte des Lebens desjenigen, der sie trägt, demjenigen, der einen Körper "lesen" kann. Nicolai kann schon als Kind gut zeichnen und ihm wird "die Ehre zuteil", dass er sich von einem Meister in der Kunst des klassischen Tätowierens mit Stäbchen ausbilden lassen kann.


    Nicolai ist 1980 geboren, der Bericht über die "sibirische Erziehung" wird von ihm selbst erzählt. Die Sprache ist ungeschliffen, oft umgangssprachlich und lakonisch. Bei einigen Sätzen musste ich sogar aufgrund der Absurdität ihrer Ausdrucksweise grinsen. Die Geschichte an sich ist - bis auf den Beginn - chronologisch aufgebaut, aber episodenhaft und manchmal etwas sprunghaft. Nicolai erzählt in einem Kapitel nach dem Prinzip einer Matrjoschka, der russischen Puppe, in der Geschichte ist noch eine Geschichte und noch eine und noch eine, bis er irgendwann den Faden zur ursprünglichen Erzählung doch wiederfindet, dem Tag seines dreizehnten Geburtstags. Die Erzählweise war für mich nicht die eines fast dreißigjährigen Erwachsenen, ich habe immer die "Stimme" des vierzehn- oder fünfzehnjährigen Nicolai herausgehört, der aus seiner jugendlichen Gegenwart heraus erzählt. Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass "Sibirische Erziehung" als Roman und nicht als Biographie bezeichnet wird. Inwieweit der Autor sich in der Berichterstattung der Abläufe oder Personen auch künstlerische Freiheit genommen hat, kann ich natürlich nicht beurteilen.


    Das Buch "Sibirische Erziehung" beginnt mit einer Szene des Endes, Nicolai kämpft in Tschetschenien auf Seiten der russischen Armee, da er zwangsweise eingezogen wurde, damit endet seine "sibirische Erziehung" dann auch, kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag. Wie ich gelesen habe, ist eine Fortsetzung seiner Geschichte in Vorbereitung, Nicolais Zeit beim Militär bis zu seinem jetzigen Leben, auf die ich schon gespannt warte.


    "Sibirische Erziehung" ist die faszinierende Geschichte einer völlig fremdartigen Welt, aber eher nichts für zartbesaitete Leser. Und - wie Nicolai am Ende von "Sibirische Erziehung" schon weiß, die Geschichte einer Welt, die es inzwischen nicht mehr gibt.



    .

  • Sehr aufschlussreiche Rezi. Herzlichen Dank dafür. Das hört sich sehr interessant an. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich selber habe es nicht gelesen, aber HerrWilli hat es grad vor ein paar Tagen aus der Hand gelegt und war ebenso begeistert.
    Danke Uta für die ausführliche Rezi :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Titel: Sibirische Erziehung
    OT: Educazione siberiana
    Autor: Nicolai Lilin
    Übersetzt aus dem Italienischen von: Peter Klöss
    Verlag: Suhrkamp
    Erschienen: Juni 2010
    Seitenzahl: 453
    ISBN-10: 3518461621
    ISBN-13: 978-3518461624
    Preis: 14.90 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Anschaulich und direkt, stolz und nicht ohne Selbstironie erzählt Nicolai Lilin, Abkömmling der sibirischen Urki, eines Kriminellenclans, in seinem ersten Roman, einer Abfolge verblüffender, teils atemberaubender Geschichten, vom Aufwachsen in Transnistrien, wohin die Urki 1938 auf Stalins Befehl umgesiedelt wurden, und von der Urki-Erziehung, die aus ihm den lebenden Widerspruch eines "ehrbaren Kriminellen" machen sollte. Die Kinder sammeln ihre Erfahrungen in Kämpfen mit Jugendbanden und mit der Polizei. Dolche und Molotowcocktails, bald auch Pistolen kommen zum Einsatz. Vom Straflager sprechen sie wie andere vom Militärdienst oder den sonstigen Aussichten eines Erwachsenenlebens.Die Alten dagegen, die "Großväter", bringen ihnen durch selbst erlebte und beglaubigte Exempel Freundschaft, Loyalität, Freigebigkeit und die Pflicht, Kinder, Alte und Behinderte zu schützen, bei sowie die strengen Urki-Regeln erlaubter Gewaltanwendung.Infolge einer Festnahme wird Nicolai rekrutiert und muß auf russischer Seite an den Kämpfen in Tschetschenien teilnehmen bis ihm der Absprung gelingt, nach Italien.


    Der Autor:
    Nicolai Lilin, geboren 1980 in der Stadt Bender in Transnistrien, kam 2003 nach Italien, ins piemontesische Cuneo, wo er als Tattoo-Künstler lebt.


    Meine Meinung:
    Roberto Saviano sagt zu diesem Buch: „Wer dieses Buch lesen will, muss die Kategorien von Gut und Böse, wie wir sie kennen, vergessen.“
    Und damit trifft er es punktgenau.
    Es geht um einen mafiaähnlichen Familienclan, um Menschen mit einem strengen Ehrenkodex, um Menschen die das Wort „kriminell“ völlig anders definieren, als es gemeinhin definiert wird. Es geht auch um eine von den Russen brutal unterdrückte Minderheit, um Menschen die dem Terror der russischen Staatsmacht ausgeliefert ist, die sich aber trotzdem zu wehren weiß.
    Der Leser lernt eine Kultur kennen, die sich so völlig von unserer Kultur unterscheidet, einer Kultur die kaum irgendwo im Mittelpunkt irgendeiner Berichterstattung steht. Es sind Menschen die sich Generationen hinweg ihre ganz besonderen Werte bewahrt haben.
    Nicolai Lilin hat ein hochinteressantes Buch geschrieben. Ein Buch in welchem er autobiographische Erfahrungen verarbeitet hat; wobei jetzt nicht klar ist, was ist Selbsterlebtes und was ist Fiktion.
    Der Autor stellt auch die unausgesprochene Frage ob es denn überhaupt „ein ehrenwertes Verbrechen“ gibt. Oder sind Verbrechen durch nichts zu entschuldigen. Diese Frage mag sich jeder Leser für sich selbst beantworten.
    Ein sehr lesenswertes Buch. 7 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.