Sogar Papageien überleben uns - Olga Martynova

  • Literaturverlag Droschl, 199 Seiten, Erstauflage 2010, 19 Euro
    Longlist Deutscher Buchpreis 2010


    Inhalt
    Marina stammt aus Petersburg und ist zu Besuch in Deutschland, wo sie bei einem Kongress über Daniil Charms und seinen Freundeskreis spricht.
    Außerdem ist da ein Mann, der in Leningrad Russisch studierte und mit dem sie damals, vor 20 Jahren, eine Liebesgeschichte erlebte.
    Die Vergangenheit ist nicht vergangen - und das gilt nicht nur für diese private Geschichte: "Ich habe Angst vor den Geheimnissen der Zeit."
    Ein ganzes Jahrhundert (und manchmal auch darüber hinaus) passiert in Marinas Assoziationen Revue, und nirgendwo sonst ist dieses letzte Jahrhundert vielfältiger, durch gewaltige Brüche im Sozialsystem fragmentierter gewesen als in Russland: vom Zarenreich über die Revolution, die Sowjetunion, die Weltkriege, die Belagerung Leningrads durch die Deutschen, die Perestrojka...


    Die Autorin
    Olga Martynova, 1962 bei Krasnojarsk geboren, wuchs in Leningrad auf, studierte russische Sprache und Literatur; 1991 zog sie nach Deutschland. Sie lebt mit ihrem Mann Oleg Jurjew in Frankfurt/Main.
    Sie schreibt Gedichte (auf Russisch) und Essays und Prosa (auf Deutsch).


    Meinung
    Irgendwo las ich, dass man dieses Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und lesen kann. Dem ist wirklich so. Olga Martynova Roman besteht aus 88 mehr oder weniger kurzen Prosatexten, die fast vollständig unabhängig voneinander gelesen werden können. Der rote Faden ist die Beziehung Marinas zu ihrem deutschen Freund Andreas und der Dichterkreis um Daniil Charms.


    Sogar die Papageien überleben uns ist eine ungewöhnliche Reise durch Zeit und Geschichte. Es handelt vom Zeitfluss, von Zeitflussweibern, von "Dingen, von früher" und "Dinge aus dem anderen Leben" und wirkt ein wenig selbstverliebt als Roman. Es braucht das ein oder andere Mal ein wenig Durchhaltevermögen um den Unsinn der Gedankenspiele zu druchschauen, aber insgesamt amüsieren die geistigen Achterbahnfahrten der Autorin.


    Wwedenskij sagte: Und überhaupt: Jede Beschreibung ist falsch. Der Satz: >>Ein Mensch sitzt, über seinem Kopf ist ein Schiff<< ist doch vielleicht richtiger als >>Ein Mensch sitzt und liest ein Buch.<<


    Es wäre falsch zu sagen (das habe ich in meinem Vortrag nicht mitgeteilt): Ich stehe in einem schattigen Hof. Neben mir steht ein deutscher Schauspieler. Ich warte, bis er sein Foto signiert hat. Nein. Ich stehe in einem schattigen Hof. Über meinem Kopf kauen die Kamele das dürftige Grün, das nicht einmal grün ist. Unter meinen Füßen hinter dem Schattengatter (-gitter?) staubt der gelbe Himmel der Wüste, der Andreas und mir vor fast zwanzig Jahren golden war.[S. 59]


    Auch an den Gesprächen der Oberiuten (Charms und seine Dichterfreunde), die “den Unsinn als Erkenntnisform gewählt haben, um die absurde Welt, in der sie zu leben hatten, besser zu verstehen”, die ähnliche (aber unterhaltsamere) Formen hatten, dürfen wir dank der Autorin teilhaben.


    Der Roman ist sicherlich ein Exot unter den Nominierungen zum Deutschen Buchpreis. Vielleicht einen Hauch zu verspielt, zu wenig ernsthaft um in den Kreis der Shortlistnominierten aufgenommen zu werden. Olga Martynovas Sätze sind lang, verschachelt und bewusst konfus (mit zahlreichen gedanklichen Abschweifungen in Klammern versehen). Klammerung innerhalb von Klammerungen nicht ungewöhnlich bei Frau Martynova. Insgesamt macht es Spaß dieses Buch zu lesen, da es einfach anders ist und zum Mitdenken und Miträtseln auffordert. Ihren scherzig bissigen Tonfall setzt die Autorin mit Bravour ein.


    Fazit: Die Kernaussage ist bei mir nicht so richtig angekommen, aber das Buch hat irgendwie etwas. Etwas, was Spaß macht . Eine lyrische Reise durch die Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Russland. Ganz sicher nicht jedermans Geschmack.


    Sonstige Informationen
    Daniil Charms bei Wikipedia
    Die Oberiuten bei Wikipedia