Das Eis-Schloss - Tarjei Vesaas

  • Originaltitel: Is-Slottet


    Über den Autor:


    Tarjei Vesaas (1897- 1970) war ein norwegischer Romancier, Lyriker und Dramatiker. In seinem Heimatland wird er zu den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts gerechnet. Er wurde mehrmals für den Literaturnobelpreis nominiert.


    Meine Meinung:


    Im Sommer kam ein neues Mädchen ins Dorf. Sie heißt Unn und wohnt bei ihrer Tante. Unn ist zu ihr gezogen, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Einen Vater hat sie nicht und außer der Tante niemanden auf der Welt. Alle waren gespannt auf Unn, als im Herbst die Schule wieder begann, vor allem Siss. Doch Unn war zurückhaltend und blieb für sich. Siss spürte, dass zwischen ihr und Unn etwas war, ein unsichtbares Band, und sie wartete. Und heute war es so weit: Unn wollte sie sprechen und lud sie für den Abend zu sich nach Hause ein. Siss ist auf dem Weg zu ihr.


    Es ist kalt, sehr kalt. Die Kälte ist allgegenwärtig, beißt ins Gesicht. Man kann sie auch hören, denn das Eis kracht, während es immer dicker wird. Es wächst auf dem See und dem Fluss und lässt sogar der Wasserfall erstarren.


    Siss und Unn sind sich noch fremd; als sie in Unns Zimmer gemeinsam in einen Spiegel schauen, entdecken sie, wie ähnlich sie sich sind und welch ein Strahlen in ihnen ist.


    Unn hat ein Geheimnis, irgend etwas Schreckliches, das ihr widerfahren ist, und beinahe erzählt sie es. Aber nur beinahe. Das Geheimnis ist so groß, dass sie es nicht wagt, Siss am nächsten Tag in der Schule zu begegnen. Morgen vielleicht. Sie macht einen Spaziergang zum See, statt in die Schule zu gehen. Das Eis zieht sie in ihren Bann. Sie kann den Wasserfall hören. Er hat ein Eis-Schloss gebaut. Das will sie sehen. Es ist ein wundervolles, prächtiges, kaltes Schloss. Sie geht hinein, betrachtet die verschiedenen Räume, ruft und hört das Echo: "Siss". Das Schloss ist mächtig und zieht sie in den Bann. Das Mädchen will immer mehr entdecken, zwängt sich durch schmale Gänge. Sie kommt in einen Tränen-Raum, in dem es von überall her tropft und in dem sie selbst weinen muss, und in einen Raum, in dem es kein Echo gibt. Sie bekommt Angst und wird müde, und das Eis-Schloss behält sie in sich.


    Siss freut sich auf Unn, doch Unn ist nicht in der Schule.


    Man sucht nach Unn, überall, auch beim Eis-Schloss, aber Unn bleibt verschwunden. Siss wird krank und zieht sich zurück, und eines Tages legt sie ein Gelübde ab: Sie will nur noch an Unn denken.


    Ich habe dieses Buch als Kind gelesen - unglaublich, dass man es damals in der Kinderbibliothek ausleihen konnte. Als Erwachsene machte ich mich auf die Suche, das Buch wiederzufinden. Beim Wiederlesen war es noch beeindruckender als damals. Es geht um zwei elfjährige Mädchen, aber es ist kein Kinderbuch, obwohl man das Eis-Schloss als Gebilde aus gefrorenem Wasser lesen kann. Doch es ist mehr: Frost, Einsamkeit, Sich-Einschließen, eine Mauer aus Eis um ein Geheimnis. Man kann die Kälte spüren. Die Beschreibung des Eis-Schlosses ist wundervoll und poetisch. Ansonsten ist die Sprache spröde, die Sätze sind kurz, vieles wird nur angedeutet und erfordert die Phantasie des Lesers.


    Es wird ein weiter Weg in den Frühling, aber Siss ist nicht allein. Die anderen Kinder bewahren die Wärme auf, bis Siss zu ihnen zurück kommt, ein Stück gewachsen.

  • Titel: Das Eis-Schloss

    Autor: Tarjei Vesaas

    Übersetzt aus dem Norwegischen von. Hinrich Schmidt-Henkel

    Verlag: Guggolz

    Erschienen: August 2019

    Seitenzahl: 199

    ISBN-10: 3945370213

    Preis: 22.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:

    Erzählt wird die Geschichte von zwei elfjährigen Mädchen, Siss und Unn. Unn kommt als Waise zu ihrer Tante in ein Dorf auf dem norwegischen Land und bringt mit ihrer Verstummtheit nach dem Verlust der Eltern das Gefüge der kleinen Gemeinschaft kaum merklich aus dem Gleichgewicht. Siss fühlt sich zu ihr hingezogen, die Mädchen freunden sich an – bis Unn plötzlich verschwunden ist. Ein eisgefrorener Wasserfall im Fluss mit glitzernden Türmchen und durchsichtigen Kammern, den die Kinder »Eis-Schloss« nennen, hat sie auf fatale Weise angezogen. Siss muss mit dem Verlust und ihrer Einsamkeit zurechtkommen und zieht sich in sich zurück. Wie gelingt es ihr, diese Vereisung aufzutauen und wieder Teil der Dorf- und Schulgemeinschaft zu werden?


    Der Autor:

    Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemäße Hofübernahme und bereiste in den 20er und 30er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und ließ sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buchnorwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Großstädte schuf Vesaas kontinuierlich ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Für »Das Eis-Schloss« erhielt er 1964 den Preis des Nordischen Rats, den wichtigsten Literaturpreis Skandinaviens.


    Meine Leseeindrücke:

    Ein sehr intensiver Roman, ein Roman über Einsamkeit und über den Wunsch nach menschlicher Nähe. Die Erzählweise des Autors ist sehr sensibel und weicht vom Alltäglichen ab. Dieser Roman ist auch ein Beleg dafür, dass die norwegische Literatur viel zu wenig beachtet wird. Denn sie besteht eben nicht nur aus Knut Hamsun.

    Es ist einer dieser Romane, die den Leser völlig in ihren Bann ziehen können, ein Roman der nachhallt und der sicher nicht so schnell vergessen wird.

    Ein Buch über eine Freundschaft die sehr intensiv ist, die aber wohl keine Erfüllung findet. Und auch die Dauer einer Freundschaft sagt oftmals nichts über ihren Intensität aus. Zwei Mädchen scheinen nicht zu wissen wie ihnen passiert, müssen aber damit umgehen.


    Doris Lessing schrieb über diesen Roman:

    Diese Geschichte ist wie eine Legende. Fast ist sie eine Ballade, deren Verse die Stimmen dieses Buches uns beim Lesen vorsingen, man hört das ganz mühelos.“


    Dieser Roman ist feinsinnig, er ist stark – so einfach ist das.


    Ein Roman aus einer ganz besonderen und ganz gewiss nicht alltäglichen Güteklasse. Er wird bleiben, auch jetzt noch – 50 Jahre nach dem Tod des Autors. Ein sehr lesenswerter Roman, ein erzählerisches Highlight.


    ASIN/ISBN: 3945370213

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.