Ich bin dann mal drüben - Michael Kraske

  • Von einem, der auszog, den Osten zu lieben


    Ups, da hat doch tatsächlich jemand die Geschichte geschrieben, die ich immer schreiben wollte! Naja, zumindest fast:


    Michael Kraske, ein Wessi aus Iserlohn, kam gleich nach der Wende nach Leipzig, um dort zu studieren. Offensichtlich etwas blauäugig hinsichtlich dieses Schrittes, ist er zunächst einmal schockiert, wo er da gelandet ist: eine graue Stadt voller Braunkohle- und Zweitaktmief, verrottete Wohnungen mit Ofenheizung und Klo auf halber Treppe, die trotzdem nicht zu bekommen sind, pampige Verkäuferinnen und chaotische Zustände an der Uni. Deshalb hatte er zunächst nur den einen Gedanken: so schnell wie möglich zurück in den goldenen Westen.
    Sehr kurzweilig schildert Kraske diesen anfänglichen Kulturschock, aber auch, wie er sich langsam diese Stadt erobert, wie er lernt, die Ossis zu verstehen, wie die DDR Teil seiner Biografie wird, alleine, weil viele seiner Freunde in der DDR großgeworden sind. Und am Ende gar ist Kraske Leipziger mit Leib und Seele und hat hier seine Heimat gefunden.


    Zugegeben, zunächst einmal hat mich dieses Buch fasziniert, weil mir so vieles so seltsam bekannt vorkam, z.B. der erste Besuch in der Moritzbastei, einer Studentendisco:


    Da hörte ich zum ersten Mal diese sehnsüchtige, klagende Geige, sah die anderen wie Jünger auf die Tanzfläche pilgern und sich mit geschlossenen Augen in die Musik wiegen.

    Sorry, Herr Kraske, das war mein Erlebnis, auch mein Liebster kann das bestätigen! :grin
    Auch ich bekam früh ein Kind, dass ich mit anfänglichem Unbehagen und zunehmender Zuversicht in der Uni-Kinderkrippe abgegeben habe. Und natürlich kenne ich das Gefühl, sich einmal pro Woche pünktlich um acht vor die einzige Telefonzelle weit und breit zu stellen und auf den wöchentlichen Anruf der Eltern zu warten.


    Aber dennoch ist dieses Buch viel mehr als die sentimentalen Erinnerungen eines Wessis im Osten. Denn Kraske versucht, mit seinem explizit westsozialisierten Blick, den deutschen Osten, der für viele Westdeutsche ferner als die Dominikanische Republik ist, zu erklären. Wie es ist, viele Jahre in einem Land gelebt zu haben, das plötzlich aufhörte, zu existieren. Wie die Stasi auch viele Jahre nach der Wende noch das Leben vieler Menschen indirekt beeinflusst. Er erzählt von Ostalgie und Neonazis und den unbestreitbaren unheilvollen Schatten, die die DDR noch wirft.


    Aber er versucht auch, das Besondere dieser Stadt zu beschreiben, das Lebensgefühl hier, diese ruppige, aber doch herzliche Art der Menschen. Und so ist dieses Buch fast eine Liebeserklärung geworden:


    Ich bin nicht hängengeblieben. Ich bin da, wo ich sein will. Und ich bin nicht der Erste, der kam und Leipzig verfallen ist.


    Ne, Herr Kraske, sinnse nich!


    Der Autor
    Michael Kraske, Journalist und Autor von Reportagen und Porträts u.a. für: Stern, Zeit, Spiegel Online, Geo, Reader´s Digest, Merian, Tagesspiegel. Dreimaliger Preisträger des Journalistenpreis "Ostenergie" für die Berichterstattung aus den neuen Ländern.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)