Marie-Aude Murail:
Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler
Fischer 2011. 576 Seiten
ISBN-13: 978-3596854431. 16,95€
Originaltitel: Miss Charity
Übersetzer: Tobias Scheffel
Illustrator: Philippe Dumas
Vom Verlag empfohlenes Alter: 10 - 12 Jahre
Verlagstext:
Von Anfang an mag man die einsame, merkwürdige und neugierige kleine Charity. Das Mädchen untersucht Tiere und Pflanzen, malt akribisch Aquarelle, deklamiert Shakespeare und wartet unverdrossen darauf, dass eines Tages etwas geschieht. Mit dreizehn verliebt sie sich in den unkonventionellen Kenneth. Doch bis sich diese Liebe erfüllt, vergehen viele Jahre. Der Leser taucht ein in Politik und Gesellschaft des viktorianischen Englands im Aufbruch, entdeckt das moderne Theater und Darwin. Und er sieht Charity zu, wie sie das wird, was George Bernard Shaw als »moderne Frau« bezeichnet, sich emanzipiert und sich Unabhängigkeit erkämpft. Ein neues Genre, ein neuer großartiger Roman: Murail entwirft für die Autorin von ›Peter Rabbit‹ einen fiktiven Lebenslauf als Charity Tiddler.
Über die Autorin:
Marie-Aude Murail stammt aus einer Schriftstellerfamilie aus Le Havre, Frankreich. Sie studierte Philosophie an der Sorbonne, zählt zu den beliebtesten zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen Frankreichs und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. 2008 wurde ihr Roman ›Simpel‹ von der Jugendjury mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Zum Inhalt:
Wenn Charity Tiddler im Meer schwimmen will, zieht sie ein Schwimmkleid an, schützt ihre Haare mit Badekappe und Strohhut und lässt sich von der Schwimmfrau direkt aus der Umkleidekabine ins Meer geleiten. Anders hätte es sich im 19. Jahrhundert für eine Frau nicht geschickt. Charitys Vater zieht sich gern in sein Arbeitszimmer zurück, vermutlich lebt die Familie von den Einkünften ihres Grundbesitzes. Frauen leiden zu dieser Zeit unter schwachen Nerven und allerlei Unpässlichkeiten, so verbringt auch Charitys Mutter viel Zeit leidend in ihrem Zimmer Die ungewöhnlich neugierige Charity hat Glück, dass ihre Eltern ihr einziges Kind von Dienstboten und Kindermädchen betreuen lassen. Niemand stört die Kleine, während sie sich mit Dingen beschäftigt, die für ein Mädchen ihrer Zeit kaum schicklich gewesen wären. Dramen auswendig lernen - und Tiere rettten. Charity "findet" Maus, Ratte, Igel, Kröte, einen Raben und päppelt verletzte Vögel auf, sogar ein Kaninchen zieht mit zu ihr ins Kinderzimmer. Mit den Zeichnungen und Aufzeichnungen aus ihrer Menagerie füllt Charity ein Tagebuch (Das Vorbild: Mein Journal).
Die neue französische Gouvernante Mademoisell Blanche soll Charity endlich zur Dame erziehen. Blanche lernt eifrig Französich, um Mademoiselle eine Freude zu machen. Mademoiselle hat sicher nicht beabsichtigt, dass Charity nun ihre Funde farbig dokumentiert, als sie ihr die Welt der Aquarellmalerei eröffnet. Nichtsahnend fördert sie mit der Malerei Charitys naturwissenschaftliche Interessen, die Frauen damals nicht zugestanden wurden. Charity fügt sich brav in ihr Schicksal - Frauen können entweder eine gute partei sein oder eine alte Jungfer werden. Doch heimlich setzt sie sich persönliche Ziele, mit denen sie sich einmal im Jahr per Brief selbst Mut zuspricht. Im Laufe des Buches klingt der Pakt mit sich selbst zunehmend dringlicher. Mademoiselle interessiert sich außer für Charitys Bildung für die Liebe, was ihrer Stellung bei den Tiddlers ein schnelles Ende bereitet. Als Charity einem kleinen Cousin während seiner Krankheit mit Peter-Rabbit-Zeichnungen die Zeit vertreibt, wird ihr künstllerisches Talent bekannt. Die ersten Zeichnungen, die Charity verkaufen kann, bringen ihr Selbstbewusstsein und eine Ahnung, was finanzielle Unabhängikeit ihr bedeuten könnte. Charity wird sich nun eine Droschke mieten oder Bus fahren, wenn s i e es für richtig hält.
Fazit:
Murail lässt in ihrer Romanbiografie Beatrix Potters (1866-1943) ihre Protagonistin Charity (im Roman geboren 1870) konsequent nach den Normen des viktorianischen Zeitalters handeln. Charity gibt sich äußerlich gehorsam, begehrt nicht offen auf, aber nutzt jede Gelegenheit, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Von ihrem 5. bis zum 25. Lebensjahr Jahr wird Charitys Blick kritischer, mit dem sie beobachtet wie Mädchen ihre Alters dynastisch geschickt unter die Haube gebracht werden. Der Traum der Familie Tiddler ist ein Ehemann, vermögend genug um nicht arbeiten zu müssen. Innerhalb des starren Rahmens ihrer Epoche entwickelt sich Charity zur bekannten Buchillustratorin, die schließlich lernt, sich nicht mehr von männlichen Geschäftspartnern über den Tisch ziehen zu lassen. Marie-Aude Murail erzählt Charitys Geschichte konsequent aus der Sicht des viktorianischen Zeitalters, ohne ihrer Heldin moderne Gedanken unseres Jahrhunderts unterzuschieben. Der großzügig farbig illustrierte Jugendroman wird Leserinnen aller Altersgruppen gefallen, die sich für viktorianische Romanen begeistern können.
Zum Weiterschmökern:
Die Welt der Beatrix Potter. Künstlerin, Märchenerzählerin, Farmersfrau
Beatrix Potter und Peter Hase. Die Geschichte der Autorin und Künstlerin
The Tale of Beatrix Potter
Miss Potter, Film
10 von 10 Punkten
[edit: Fipptehler]