Andrew O'Hagan: Dunkles Herz

  • Andrew O'Hagan: Dunkles Herz
    Fischer Neuauflage 8. März 2012. 320 Seiten
    ISBN-13: 978-3596188895. 9,99€
    Originaltitel: Our Fathers
    Übersetzerin: Barbara Christ


    Verlagstext:
    "Das Kind, das du gewesen bist, verlässt dich nie." --- Diese Erfahrung macht Jamie, als er in seine schottische Heimat zu seinem sterbenden Großvater zurückkehrt. Dieser war in den fünfziger Jahren ein Pionier des schottischen Wohnungsbaus, ein Mann voller Ideale, im Einsatz für eine bessere Gesellschaft. Nun sieht Hugh Bawn seinem Ende entgegen in einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung, die einst zu seinen Vorzeigeprojekten gehörte. Für Jamie wird der Besuch eine Reise in die Vergangenheit: auf die Tyrannei des Vaters und den Idealismus des Großvaters folgte der Niedergang des Landes, und der hat auch vor Jamies Familie nicht haltgemacht. Am Ende steht die Chance auf Aussöhnung mit der größten Leerstelle in Jamies Leben: dem verschollenen Vater.


    Der Autor
    Andrew O'Hagan kam 1968 in Glasgow zur Welt und wuchs wie sein Held Jamie in North Ayrshire auf. Er arbeitete für die London Review of Books, schrieb 1995 "The Missing" (das auf die Shortlist zu drei Literaturpreisen gelangte), und 1999 Our Fathers (Dunkles Herz, dt. 2000), nominiert u. a. für den Booker Prize und den Whitbread First Novel Award. 2003 erschien "Personality"; und O'Hagan wurde vom Literaturmagazin Granta zu den Top 20 Young British Novelists gezählt. 2006 "Be near me", auf der Longlist für den Booker Prize, 2008 "Essays on Britain and America". "Leben und Ansichten von Maf, dem Hund, und seiner Freundin Marilyn Monroe" (2010) ist O'Hagans vierter Roman. Für seine Bücher erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und zwei Booker-Prize-Nominierungen. Andrew O'Hagan, der in London lebt, zählt zu den wichtigsten literarischen Autoren Großbritanniens. (Quelle Wikipedia)


    Inhalt
    Mitte der 90er kehrt James Bawn nach Ayrshire in Schottland zurück, weil sein Großvater im Sterben liegt. Jamie erinnert sich an seine Kindheit mit einem trinkenden Vater, der die Mutter misshandelte und seinen Sohn für einen Versager hielt. Dass Bücher laut Robert Bawn nur für Schlappschwänze da sind, hindert Jamie nicht daran, die Schule zu lieben. Besonders verehrt er seine Bio-Lehrerin, die für ihn die beruhigende Vernunft der Naturwissenschaften repräsentiert. Eine der anrührendsten Szenen des Buches ist die Sorge der Lehrerin um James Schicksal, die sich in ihrem Buchgeschenk ausdrückt, als die Bawns von England nach Schottland umziehen. Zu seiner schottischen Kindheit gehörte für Jamie explizit der sexuelle Missbrauch durch den katholischen Priester. Vater Peter Bawn nimmt in Schottland eine Stelle als Koch in einer Sonderschule für Schwererziehbare an. Ein großer Teil der Schüler lebt dort, nachdem sie ihren gewalttätigen, gleichgültigen Eltern immer wieder davonzulaufen versuchten. Jamie und der Heimzögling Berry entdecken ihre Gemeinsamkeit - beide Väter hassen ihre Söhne. Jamies Halt ist allein der Optimismus seiner Mutter, dass er es einmal besser haben wird. Jamie fühlt sich in der Familie für die Beschwichtigung seiner Mutter zuständig, obwohl er insgeheim mit ihrer Duldsamkeit gegenüber dem gewalttätigen Ehemann hadert. Weil seine Mutter ohne den Vater nicht sein konnte, musste Jamie sich so einsam fühlen, erklärte er sich die Misere mit kindlicher Logik. Während seine Mutter unbeirrt der alten Leier anhängt, dass gewalttätige Männer und Väter schuldlos an ihrem Verhalten sind, flüchtet Jamie zu seinen Großeltern. Für Großvater Hugh Bawn, der eine Generation lang schnell hochgezogene Hochäuser in Glasgow baut, um die Wohnungsnot zu lindern, nimmt Jamie die Stelle des Sohnes, seines verstoßenen Vaters ein. Eine Rückblende führt in die Zeit von Hughs Geburt (1913), als dessen Vater Thomas, der die Landwirtschaft hasste, vom Dorf in die Stadt kam, um in einer Kanonengießerei zu arbeiten. Thomas stirbt im Ersten Weltkrieg in irgendeinem Loch in Flandern. Der kleine Hugh behält als erste Erinnerung an seine Kindheit, wie seine Mutter Famie einen Aufstand gegen die Zwangsräumung von Kriegerwitwen organisiert, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Aus dem wissensdurstigen Jungen, der schon mit vier Jahren in die sozialistische Sonntagsschule geht, wird ein Mann, der jeden beeindruckt, der Pionier des sozialen Wohnungsbaus. Anhand der Familiengeschichte der Bawns illustriert Andrew O'Hagan die Übergänge der schottischen Wirtschaftsgeschichte von Landwirtschaft und Bergbau der Jahrhundertwende zu Schiffbau und Fabrikfertigung in der Gegenwart.


    Der Verfall des Hochhauses, in dem seine Großeltern leben, und der soziale Abstieg seiner Bewohner ist für James nicht zu übersehen, als er in Glasgow ankommt. Der Wohnblock ist ein Schandfleck, den man nur noch sprengen kann. Niemand ist dem alten Hugh mehr dankbar dafür. Die Wohntürme von heute sind ebenso feuchte Löcher wie die Bruchbuden mit Außenklo es damals waren. James nimmt das Ende der Ära Hugh zwar wahr, aber es bleibt offen, ob er seinen eigenen Weg inzwischen gefunden hat.


    Fazit
    Nach einer meisterhaft erzählten Rückblende in Jamies Kindheit kann der Roman nicht bis zum Schluss fesseln. Jamie, dessen Familiengeschichte als Anknüpfungspunkt zur schottischen Geschichte dient, bleibt dazu als Protagonist zu blass. Meine erste Begegnung mit Andrew O'Hagan als Erzähler fand ich dennoch lohnenswert.


    7 von 10 Punkten