Mathias Gatza: Der Augentäuscher

  • Mathias Gatza: Der Augentäuscher
    Graf Verlag 2012. 384 Seiten
    ISBN-13: 978-3862200092. 19,99€


    Verlagstext
    Es war nichts als eine dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Zahl 1673 geritzt war. Aber der Fund war spektakulär. Die Reste eines Photos aus dem 17. Jahrhundert? Obwohl die Photographie erst im 19. erfunden wurde? Humbug, völlig unmöglich. Niemand glaubt dem verkrachten Wissenschaftler. Im Jahr 2002 jedoch, bei den Aufräumarbeiten nach dem Elbhochwasser in Dresden, stößt er auf einen Druckbogen im Bleisatz, dessen verklebte Seiten er löst und: das zweite Glied einer großartigen Beweiskette entdeckt. Schilderungen über einen gewissen Silvius Schwarz, hochbegabter Stillleben-Maler, Libertin und Atheist, der in Dresden aus einer Camera obscura ein künstliches Auge gebaut hat. Seine Geliebte, die wilde, schöne Sophie von Schlosser, berühmte Mathematikerin und Gambenvirtuosin, war ebenso Anlass für Neid und Missgunst wie Silvius' Erfindung: die Eins-zu-eins-Wiedergabe der Natur. Nur wenigen gewährt er einen Blick auf seine Kunst, und dann nur flüchtig, bei Kerzenschein … Bald als Magier und Blasphemiker gejagt, wird Silvius auch noch verdächtigt, mit den geheimnisumwobenen Ritualmorden zu tun zu haben, die die höfische Welt erschüttern …


    Der Autor
    Mathias Gatza, geboren 1963 in Berlin, begann seine Verlagskarriere bei Wagenbach. 1990 gründete er den Mathias Gatza Verlag, in dem er vor allem deutschsprachige Gegenwartsliteratur verlegte. Dies setzte er ab 1996 als "Gatza bei Eichborn" fort; danach als Lektor beim Berlin Verlag und bei Suhrkamp. Sein erstes Buch Der Schatten der Tiere (2008) pries die FAZ als schönsten Debütroman der Saison.


    Inhalt
    "Silvius Schwarz machte das auch so, und zwar besser." Unter Kunsthistorikern stand der Name Silvius Schwarz für ein Forschungsvorhaben, das in die Sackgasse führte. Der Herausgeber eines Textes, der gratis im Internet herunterzuladen ist, hat sich offenbar an der Person des fiktiven Mannes aus dem 17. Jahrhundert festgebissen und ist genau in dieser wissenschaftlichen Sackgasse gelandet. Sein Dissertationsthema wurde abgelehnt, die Zeit läuft ihm allmählich davon. Die Figur des Silvius Schwarz weckte bei mir sofort die Assoziation zu Jakob Maria Mierscheid, jenem fiktiven Bundestagsabgeordneten, der durch Wikipedia- und Facebook-Einträge beinahe zur realen Person wurde. Um das Rätsel zu lösen, ob Mathias Gatza der Buchbranche mit Schwarz einen eigenen Mierscheid geschaffen hat, versuchte ich die Enträtselung seines literarischen Wimmelbilds. Die verschiedenen Ebenen und Sichtweisen in Gatzas Roman sind typografisch sorgfältig getrennt. Vier Lebensläufe aus zwei Epochen lassen Leopold, den Schriftsetzer (*1639), den Stilleben-Maler Silvius Schwarz (*1653), Sophie von Schlosser, Silvius Cousine und Briefpartnerin (*1657), und den ungenannten Herausgeber (*1953) sehr glaubwürdig wirken.


    Eine Rahmenhandlung, die der Herausgeber und Kommentator des Textes an die Leser richtet, ein Briefwechsel zwischen Silvius und seiner Cousine Sophie, das krimireife Auftauchen und Ansammeln von Druckbogen aus dem 17. Jahrhundert, geheimnisvolle Funde von Toten in Wolfsgruben im Raum Dresden und die Erfindung der Fotografie durch Silvius Schwarz sind nur einige der Ebenen, aus denen "Der Augentäuscher" besteht. Streckenweise fühlt man sich als Leser wie eine Figur, die eine gemalte Person beobachtet, die eine gemalte Person beobachtet, die sich wiederum im Spiegel betrachtet. Versatzstücke werfen Fragen nach menschlichen Sehgewohnheiten auf, wenn z. B. eine Verknüpfung zwischen Barockmalerei und anatomischen Forschungen zu jener Zeit hergestellt wird, oder wenn in der Gegenwart eine reale Person zum Stoff der Regenbogenpresse wird. Hätte Silvius tatsächlich mit Gottfried Wilhelm Leibniz korrespondiert, wäre das sicher durch Quellen zu belegen. Aber was wäre, wenn im 17. Jahrhundert im Kurfürstentum Sachsen tatsächlich eine Gestalt wie Silvius mit fotografischen Platten aufgetaucht wäre, die sich unter Lichteinwirkung verändern? Hätte man ihn für einen Scharlatan gehalten oder für einen Verbrecher? Auch die Position des Setzers Leopold ist Anlass zum Grübeln. Ist ein Setzer nur zum Vervielfältigen von Schriftstücken da oder trägt er Verantwortung für den Inhalt? Texte und ihre Schöpfer wechseln bei Mathias Gatza die Plätze, wenn ein Schöpfer wiederum selbst im Text auftaucht. Um seine These über die Erfindung der Fotografie zu beweisen, wüsste nicht nur der anonyme Herausgeber gern, ob die Briefe in Form eines Briefromans echt sind oder nur so wirken. Sophie wirkt sehr jung und für ihre Zeit ungewöhnlich kritisch, wenn sie sich schriftlich bemüht, Silvanus von seinem hohen wissenschaftlichen Ross herunterzuhohlen.


    Fazit
    Wer von Gatzas Spiel mit Lese- und Sehgewohnheiten keinen linear erzählten historischen Roman über Barockmalerei erwartet und beim Lesen das Augenzwinkern nicht vergisst, wird mit einem typografisch interessanten und inhaltlich ungewöhnlichen Buch belohnt.


    8 von 10 Punkten

  • „Der Augentäuscher“ führt nicht umsonst das Wort Täuschung im Titel. Gleich zu Anfang gibt es ein Vorwort des namenlosen Autors. Schon nach kurzem merkt man, dieses Vorwort ist kein Vorwort sondern schon der Roman. Mit unbekümmertem Größenwahn berichtet uns der Erzähler, das er im Besitz von Dokumenten ist, die Beweisen, das die Fotografie schon im Barock erfunden wurde. Und zwar von einem gewissen Silvius Schwarz. Dass er zu Silvius Schwarz kam wie der Jungfrau zum Kind und ebenso unglaublich zufällig zum 1. Bogen des Setzers Leopolds, der den Beweis liefert, das es Schwarz überhaupt gab, berichtet er ebenso sorglos, wie er überhaupt gerne seine nicht immer astreine Vorgehensweise zugibt, wie etwa den Diebstahl des Briefromanes, die Korrespondenz zwichen Silvius und seiner Cousine bzw Geliebten Sophi,e aus der Tasche der Historikerin Sandra Kopp. Zwischen seinen Berichten über seine Jagd nach den Bögen des Leopoldes und seiner zunehmenden Besessenheit zu besagter Professorin Sandra Knopp, die ihn sogar das Klatschblatt „Gala“ lesen läßt, streut der Erzähler den gemopsten Briefroman ein, so wie er zur Handlung der Bögen annähernd passt.


    Der Erzähler berichtet von seiner Mission schonungslos ehrlich, beschönigt weder sein Scheitern an seiner Doktorabeit sowie sein sozialer Abstieg zum Harz IV Empfänger; zugleich ist er aber auch ein wenig selbstverliebt, wenn er berichtet, wie er mehr und mehr eine Obsession entwickelt um diesen Silvius Schwarz und sich in seine Forschung hineinsteigert. Sogar seinen ersten Flug absolviert er unter Todesangst. Nach Rom geht es natürlich, wo er in den vatikanischen Archiven einen weiteren Leopoldbogen findet (so ein Zufall!) und ihn natürlich auch zum Wohle der Wissenschaft an sich nimmt.


    Diese dreigeteilte Erzählung hat durchaus ihren Reiz. Die Passagen des Erzählers sind oft witzig und es ist unterhaltsam, ihm bei seiner sich steigernden Besessenheit, bis fast hin zur Paranoia, zu folgen. Die Bögen des Leopolds sind die eigentliche Erzählstimme für mich, denn sie berichtet von der Ereignissen um Silvius Schwarz, der auch einer Obsession nachhing, nämlich der des wahrhaftigen Sehens. In den Bögen findet auch die kleine Krimigeschichte statt, denn zu der Zeit ging ein Mörder um, der berühmte Sänger und Kastraten meuchelte und sie kopfüber gekreuzigt plazierte. Dieses Umkehrprinzip führt die Menschen zu Silvius und seiner Kunst der Camera Obscura und seinen Fotografien, die die Menschen seiner Zeit noch nicht verstehen und für Teufelswerk halten.


    Die Briefe sind meiner Meinung nach der Schwachpunkt der Geschichte. Silvius Briefe berichten viel von seiner Arbeit, seinem Sehnen nach der perfekten Abbildung. Sophie, laut Klappentext eine begabte Mathematikerin, schreibt kaum über ihre Arbeit. Sie ist in platonischer Ehe mit einem Mann verheiratet, der so seine Liebe zu anderen Männern kaschiert. Das gibt ihr alle Freiheit, das Treuegelöbnis nicht ernst zu nehmen. Ihre Briefe sind voller Gekreische. Ständig beschwert sie sich, schimpft über zu wenig Aufmerksamkeit und Nörgelt. Das ging mir schon ziemlich schnell auf die Nerven und ich konnte die bewunderte und so begabte Sophie in diesen Briefen nicht finden. Zudem tragen sie wenig zur Handlung bei, sie sollen wohl mehr den Privatmensch Silvius zeigen, doch auch hier bleibt er fern und unbegreiflich.


    Insgesamt ist „Der Augentäuscher“ ein ungewöhnlicher Roman. Er ist unterhaltsam, manchmal auch etwas anstrengend, aber kurzweilig und nimmt sich nicht allzu ernst. Ich habe ihn gerne und recht zügig gelesen. Punktabzug gibt es von mir wegen den Briefen, und dem immer wirrer werdenden Ende.

  • Ich beglückwünsche Sie als zukünftigen Leser, wenn Sie sich tatsächlich an dieses hoch komplexe Werk herantrauen. Allerdings muss ich Sie gleichzeitig warnen - ein wenig Arbeit werden Sie schon investieren müssen, um hinter die Fassade dieses Panoptikums an Absonderlichkeiten zu blicken. Sie erwarten reine Unterhaltung? Sie erwarten einen historischen Krimi? Sie verlassen sich gar auf den Klappentext?? Vergessen Sie's. Dann werden Sie vermutlich nach kurzer Zeit entnervt aufgeben.


    Ich habe das Buch gewissermaßen nicht gelesen, sondern "durchgeackert". Man kann es wahrlich nicht "lesen" nennen, denn andauernd musste ich mir Gedanken machen, was denn mit dieser Finte, diesem Kniff schon wieder gemeint sein könnte. Und doch wurde ich belohnt, denn ich fühlte mich als Leser ernst genommen. Als Leser, der sich nicht nur "bedienen" lässt, sondern der aktiv an der Sinnkonstruktion des Buches beteiligt wird. Und insofern fand ich das Buch richtig gut!


    Die erste "Schachtel", in der das Buch steckt, die erste Rahmenhandlung, rankt sich um einen verhinderten Doktoranden, der schon im mittleren Alter ist, und sein ganzes Leben lang nach einem ominösen sächsischen Maler aus dem 17. Jahrhundert geforscht hat: nach Silvius Schwarz. Dieser namenlose (!) Doktorand schreibt das Buch im Rückblick, als fiktiver Herausgeber. Er stellt die Ergebnisse seiner lebenslangen Forschung dem interessierten Publikum frei "als Download" zur Verfügung (was für uns Leser natürlich die physische Einheit "Buch" ist). Gleichzeitig wird seine höchst absonderliche Lebensgeschichte geschildert, die vor Zufällen und Eigenheiten nur so strotzt. Hier kann man Anklänge an allerhand Schelmen- und Entwicklungsromane finden, wovon ich nur den "Tristram Shandy" oder "Pinocchio" erwähnen möchte. Denn auch unser Doktorand jagt zwar nicht seinem Geppetto, sondern Silvius Schwarz hinterher - wird jedoch immer wieder an der Nase herumgeführt. Ich habe mich hier sehr oft köstlich amüsiert! Das akademische Milieu wird herrlich veralbert. Gleichzeitig wirkt der "Plot" dieser Rahmenhandlung wie aus "Alice im Wunderland": es endet in einem Labyrinth (!), in das der Doktorand "gefallen" zu sein scheint, und aus dem er nur knapp entkommt - mit einer ganzen Meute hinter sich.
    Der zweite Rahmen, die zweite Schachtel, besteht aus 6 antiken Druckbögen, die ein Zeitgenosse des besagten Silvius Schwarz seinerzeit gesetzt haben soll. Leopold war stumm, und mit Silvius augenscheinlich befreundet. Der Doktorand kam durch allerlei abenteuerliche Zufälle an diese Bögen, in denen sich Leopold vom Chronisten zum Denker und Forscher entwickelt. Der Tonfall ist hier ganz der damaligen Zeit angepasst, und zeichnet glaubwürdig die innere Entwicklung Leopolds nach. Ganz unverkennbar bestehen hier Parallelen zum "Namen der Rose", sowie zum "Parfum": Zwar ist die Handlung zeitlich deutlich hinter Umberto Ecos Meisterwerk angesetzt, aber der Grundgedanke scheint derselbe zu sein. Es endet an einem ominösen, versteckten, verschachtelten Ort, und es geht um Morde, die aus höchst idealistischen Gründen begangen wurden. Insofern ähnelt Leopold, der Drucker, ein wenig Adson von Melk. An das "Parfum" wiederum erinnert die Lebensgeschichte des Silvius Schwarz; seine Kindheit mit weitestgehend dunklen Wurzeln, seine Besessenheit, die ganz derjenigen Grenouilles ähnelt, und sein Ende. Auch eine orgiastische Verwirrungsszene ist enthalten, ganz wie im "Parfum".


    Die dritte "Schachtel" schließlich, oder sollte ich vielmehr sagen, das dritte Kaninchen, das der Autor aus dem Hut zaubert, besteht aus Liebesbriefen, die sich Silvius Schwarz und seine Cousine Sofie geschrieben haben sollen. Sollen, wohlgemerkt; denn es ist ebenso möglich, dass diese Briefe nur ein Roman einer nicht näher bezeichneten Nonne, Dionysia von Rose (!), sind. Das bleibt angenehm offen, und trägt zum Reiz des Ganzen bei. Auch diese Briefe sind kunstvoll geschrieben - ganz egal, woher sie auch stammen mögen. Der Tonfall und die ganze Ausdrucksweise stammen derart unverkennbar aus den "Gefährlichen Liebschaften", dass man schon blind sein müsste, um dies nicht zu merken. Sofie gleicht der Marquise de Mertueil, und Silvius dem Vicomte de Valmont - beide berichten sich in scheinbar plauderndem, doch hoch frivolem und lauernden Ton von ihren jeweiligen Winkelzügen.


    Diese drei Erzählstränge werden das ganze Buch über höchst kunstvoll verschränkt, so dass man als Leser dauernd "auf der Lauer liegen" muss. Nie kann man sicher sein, nun wirklich alles erfasst zu haben. Immer wieder gibt es ein neues skurriles Detail, eine neue Wendung. Ich gebe sogar unumwunden zu, dass ich nicht sicher bin, ob ich das Ende richtig verstanden habe. Was war denn nun auf dem ominösen "Foto" zu sehen, das Silvius gemacht haben soll? Lebt er noch, oder konnte er seinen Henkern entkommen? Was geschah mit dem Ort in Sachsen, den es heute nicht mehr geben soll, und der geheimnisvoll "***rode" genannt wird? Doch wissen Sie was - es ist mir letztlich egal. Wie aus einem Labyrinth, bin ich aus diesem Buch hervorgetaumelt. Es war ein wenig anstrengend, doch unbedingt lohnend, sich in dieses Abenteuer zu stürzen. Sollten Sie mir folgen wollen, So wünsche ich Ihnen ebensoviel Spannung und Entdeckerlust, wie ich sie verspüren durfte.

  • Meine Rezi auf vorablesen.de:


    "Der Augentäuscher", mein erster Roman vom Autor Mathias Gatza, handelt vom angeblichen Erfinder der Fotografie Silvius Schwarz im 17. Jahrhundert. Beim Roman können drei Teile differenziert werden, was die Lektüre ansprechender und interessanter macht. Die Passagen wechseln sich oft ab, greifen aber sehr passend ineinander.


    Herausgeberteil:


    Der fiktive Herausgeber kommentiert einerseits die Bögen und den Briefroman und erläutert, wie er beides in die Hände bekam. Er erzählt außerdem seine Lebnsgeschichte und verschiedene Erlebnisse, die mit seiner Forschungsgeschichte zusammenhängen. Im Großen und Ganzen fand ich diesen Teil weniger unterhaltsam. Ein paar amüsante Stellen waren eingesträut, aber richtig fesseln konnten mich diese Passagen nicht.


    Bögen des Setzers Leopold:


    Die lebendig und anschaulich geschriebenen Bögen des Setzers Leopold erzählen die Lebensgeschichte von Silvius Schwarz. Dieser Teil hat mir eindeutig am besten gefallen. Die Sprache ist besonders angenehm zu lesen und leicht antiquiert. Auch wenn hier nicht richige Spannung aufkam, konnte mich dieser Romanteil am ehesten packen.


    Briefroman:


    In den Briefromanteilen, in denen sich Silvius und Sophie einander schreiben, wird die Liebesgeschichte der beiden deutlich. Außerdem kann man hier noch mit am meisten auf den Charakter von Silvius schließen, weil er hier auch einmal zu Wort kommt. Auch diese Stellen fand ich ganz nett, aber eben nur ganz nett.


    Fazit:


    Insgesamt fand ich den Roman mittelmäßig. Sprachlich hat er mir ausgesprochen gut gefallen, die Gesamtidee mit den drei unterschiedlichen Perspektiven und von der Handlung fand ich ansprechend, der Autor beherrscht sein Handwerk. Dennoch kam bei mir keine richtige Spannung auf. Mit Sicherheit werde ich aber weiteren Büchern des Autors noch eine Chance geben.