Jane Urquhart: Die gläserne Karte

  • Jane Urquhart: Die gläserne Karte
    Bloomsbury Taschenbuch Verlag 2008. 352 Seiten
    ISBN-13: 978-3833305610. 10,95€


    Verlagstext
    Der junge Landschaftskünstler Jerome verbringt einige Monate auf einer winzigen Insel im Ontariosee. Er will beobachten, wie sich die archaische Schnee- und Eiswelt Kanadas unter dem nahenden Frühling verändert. Doch sein Idyll wird jäh erschüttert, als er im Eis die Leiche eines Mannes findet. Ein Jahr später steht Sylvia, die Geliebte des toten Mannes, vor seiner Tür. Während er noch immer von dem Bild der Eisleiche verfolgt wird, trauert Sylvia um den einzigen Mann, den sie je geliebt hat. Bevor ihr die Vergangenheit unwiederbringlich entgleitet, will sie dem Fremden von Andrew und seiner Familie erzählen, die einst Holz den Sankt-Lorenz-Strom hinunterflößten und ein ganzes Imperium schufen. In diese Chronik eines Familienunternehmens ist zugleich die Geschichte eines Landes und einer Landschaft eingeschrieben. Seit David Gutersons "Schnee, der auf Zedern fällt" ist die klirrendkalte Magie des Winters nicht mehr so eindrücklich beschrieben worden. Urquharts Gespür für Landschaft und die dichte poetische Atmosphäre des Romans sind meisterlich. Mit "Die gläserne Karte" hat sie eine mitreißende Erzählung über die Zerbrechlichkeit der Liebe und die heilende Kraft des Erzählens geschrieben.


    Die Autorin
    Jane Urquhart wurde 1949 in Geralton, Ontario, geboren, wuchs in Toronto auf und lebt heute wieder in einer Kleinstadt in Ontario. Sie gehört zu den erfolgreichsten kanadischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Im Berlin Verlag erschienen ihre Romane "Fort" (1995), "Übermalungen" (1997), "Im Strudel" (2002) und "Die Bildhauer" (2002). Mit "Die Bildhauer" war sie für den Booker Prize nominiert.


    Inhalt
    Jane Urquhart führt mehrere außergewöhnliche Menschen zusammen, die Landkarten anfertigen. Da ist zunächst der Künstler Jerome, der sich allein auf der im Winter verlassenen Insel Timber Island im St. Lorenz-Strom absetzen lässt, um dort mit Fotos die Vergänglichkeit der Welt am Verfall verlassener Gebäude zu dokumentieren. Eine veraltete Form der Landschaftserkundung würden Jeromes Künstlerkollegen seinen Plan nennen. Timber Island liegt am Übergang des Ontariosees in den St. Lorenz-Fluss. Ob die Insel im See oder im Fluss liegt, wurde von den Bewohnern nie geklärt, sie bildeten je nach Überzeugung die Gruppe der "Laker" oder der "Streamer". Es gibt zahlreiche Inseln im Strom; im 19. Jahrhundert wurden hier Boote gebaut, Holz geflösst, es gab eine Waisenhausinsel. Heutzutage beherbergen die Inseln im Fluss Ferienhäuser und Künstlerkolonien wie Timber Island. Jerome findet im Eis die Leiche eines Mannes, dem die Wörter abhanden gekommen waren und der schließlich sterbend vom Schnee bedeckt wurde - wie die Leser im ersten Kapitel erfahren haben. Der Tote ist Andrew, ein Nachfahre der Familie, die auf Timber Island im vorigen Jahrhundert ein Sägewerk und eine Bootswerft betrieb.


    Bei Jerome taucht im folgenden Jahr Sylvia auf, eine Frau in den Fünfzigern, die mit Andrew ein Liebesverhältnis hatte und mit Jerome dringend über Andrew und seine Familiengeschichte sprechen möchte, die er handschriftlich in zwei grün eingebundenen Bänden hinterlassen hat. Auch Sylvia ist Kartographin, sie fertigt für ihre blinde Freundin Julia Fühlkarten aus verschiedenen Textilien und Materialien an, um Julia die Welt außerhalb ihrer Farm zu zeigen. Wie ungewöhnlich es für Sylvia ist, überhaupt ihr Haus zu verlassen, um zu einem Treffen mit Jerome in eine ihr fremden Stadt zu fahren, erschließt sich aus der Rahmenhandlung des Buches. Sylvia hat seit dem Ende ihrer Schulzeit ihr Elternhaus nicht mehr verlassen; ihr Mann Matthew heiratete sie als Patientin und persönliches Forschungsobjekt zusammen mit der Arzt-Praxis ihres Vaters. Jane Urquhart beschreibt Sylvias Störung in äußerst liebenswerter Weise, der Begriff Behinderung fällt erst nach über 100 Seiten. Vermutlich fehlten Sylvias Familie die Worte, um anderen die Besonderheit ihrer autistischen Tochter zu erklären. In Sylvias Leben mussten alle Dinge an ihrem festen Platz sein, sie ließ sich ungern von anderen anfassen und lernte erst als Erwachsene mühsam, die Mimik ihrer Gesprächspartner zu lesen. Matthew, der Sylvia trotz der Einwände ihrer Mutter heiratete, übt als Kontakt zur Außenwelt besondere Macht über das Leben seiner Frau aus.


    Jerome bedeuten die grünen Bände viel, denn schon Andrew hat die Vergänglichkeit von Bauten gegenüber der Kraft der Natur aufgezeichnet. Andrews Ururgroßvater war bereits Kartograph im irischen County Kerry gewesen. Timber Island erhielt er als Bezahlung seiner Dienste für die Englische Krone. Andrew zeichnet den Niedergang von Schiffbau und Holzhandel auf, nachdem der letzte Baum abgeholzt war, das Scheitern der nächsten Generation als die Sanddünen einen Hotelbau rückerobern und die rücksichtslose Ausbeutung des Ackerlandes durch Getreideanbau. Beide Generationen haben die Natur ausgebeutet, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie ihre Kinder einmal ihren Lebensunterhalt verdienen werden. Eine Einstellung, die die 200 Jahre währende Besiedlung Nordamerikas charakterisiert. "Natürlich baut er noch Schiffe. Gilderson war klug genug, sich rechtzeitig auf Dampf umzustellen. Dampfer wird es immer geben." "Das bezweifele ich", sagte Annabelle, nahm ein Kassenbuch [von der Kante der Landkarte] und sah zu, wie sich die Karte langsam wieder zu ihrer zylindrischen Form zusammenrollte. "Nichts geht immer einfach so weiter." (S. 238)


    Fazit
    Timber Island wirkt im Verhältnis zu Nordamerika wie ein Sandkorn, das dennoch die Geschichte des Landes in sich trägt. Jane Urquhart lässt ihre Leser die Landschaft am St. Lorenz durch die Augen von Künstlern betrachten, die gewohnt sind, das Gesehene zu Papier zu bringen. Die Begegnung dieser drei Sonderlinge mit Andrews Familiengeschichte vermittelt besonders eindringlich die jüngere kanadische Geschichte. Auch wenn ich mir für Sylvia einen anderen Schluss gewünscht hätte, bin ich beeindruckt von Urquharts Können, mit dem sie Wesenszüge heausarbeitet, in denen Sylvia, Jerome und Andrew sich ähneln.


    Textauszug
    Sie [Jeromes Freundin Mira]war so fleissig, so wach, dass sie fast summte, und wenn sie zusammen durch Galerien streiften oder auf dem Markt einkaufen waren, bewegte sie sich gezielt, losgelöst, als schwebe sie über Blumen. In solchen Momenten zog sie ihn ungeheuer an; wenn sie in eine Aufgabe versunken war oder sich ihre Aufmerksamkeit auf Gegenstände in der Welt um sie herum richtete. Sie verfügte über eine bewundernswerte Anpassungsfähigkeit, eine Großzügigkeit den Anfängen von Dingen gegenüber. Jerome betrachtete ihre strickenden Hände, den konzentriert vorgeneigten Kopf. Ein Teil von ihr war an einem anderen Ort, und doch war sie ihm so verführerisch nah. Mira hörte auf zu stricken, legte den Kopf zurück und sah ihn an. Die Wolle auf ihrem Schoß war wie eine rosa Lache." (S. 111)


    9 von 10 Punkten