Nina Pauer: LG;-) Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen

  • Nina Pauer: LG ;-) Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen
    S. Fischer Verlag 2012. 240 Seiten
    ISBN-13: 978-3100606303. 14,99€


    Verlagstext
    Noch nie haben wir auf so vielen Kanälen gleichzeitig kommuniziert. Vor allem Menschen zwischen 15 und 35 haben ein zweites, ein virtuelles Ich im Internet, das ihr Leben prägt wie nichts Vergleichbares zuvor. Wer nicht postet, ist nicht! Wer sich nicht einloggt, bleibt außen vor. »Wir müssen dieses Ich im Auge behalten, wir müssen nach ihm schauen, wir müssen erreichbar sein, reagieren können, wenn es etwas von uns will. Wir müssen es füttern, permanent. Das alles tun wir schon lange nicht mehr ganz freiwillig. Wir haben es nicht mehr unter Kontrolle. Wir könnten nicht mehr damit aufhören.« Nina Pauer erzählt und erklärt dieses neue Leben. Sie klagt nicht über Facebook & Co., sondern beschreibt die Wirkung exzessiver und besonders virtueller Kommunikation bis tief in den analogen Alltag hinein. Dabei trifft sie nicht nur den Nerv der Betroffenen, sondern bringt die seit Langem einschneidendste Veränderung unserer Gesellschaft auf den Punkt.


    Die Autorin
    Nina Pauer, Jahrgang 1982, studierte Geschichte, Soziologie und Journalistik an der Universität Hamburg und der Université Michel Montaigne in Bordeaux. Während ihres Studiums hat sie am Hamburger Institut für Sozialforschung in den Arbeitsbereichen »Nation und Gesellschaft« und »Die Gesellschaft der Bundesrepublik« gearbeitet. Nina Pauer ist Redakteurin im Feuilleton der ZEIT und stößt immer wieder Debatten an, die großen Widerhall in der Öffentlichkeit finden (z.B. über »Die Schmerzensmänner«). 2011 erschien ihr erstes Buch »Wir haben keine Angst. Gruppentherapie einer Generation«.


    Inhalt
    An einem Vierertisch im ICE treffen Anna und ihre Mutter Ulla zufällig mit Markus zusammen. Markus und Anna drängten bereits mit dem Smartphone am Ohr in den Zug. Anders als Ulla fühlt die junge Generation sich während der Bahnfahrt verpflichtet, für Kollegen und Freunde telefonisch und per Mail erreichbar zu sein. Seit Markus und sein Geschäftspartner Julian von zwei Wohnorten aus gemeinsam Social-Media-Auftritte organisieren, ist für Markus die Bahn Arbeitsplatz. Markus, der Vater eines kleinen Sohnes ist, fühlt sich in dieser Zeit von privaten Anrufen seiner Frau gestört. Auf Facebook unterwegs zu sein ist für Markus und Julian keine Freizeitbeschäftigung. Der persönliche Vorteil, von überall aus arbeiten und kommunizieren zu können, wird von "kreativ Tätigen" mit der Fron der Präsenzpflicht und der nicht endenden Suche nach Kontakten und Impulsen erkauft. Mit Anfang dreißig hat Markus bereits einen Zusammenbruch hinter sich, nach außen mühsam mit dem neuen Euphemismus "Infektionskrankheit" für Burnout kaschiert.


    Anna ist teils beruflich, teils privat unterwegs, stets "auf 14 Kanälen zu erreichen". Sie hat sich selbst den Druck auferlegt, rund um die Uhr die Statusmeldungen ihrer virtuellen Existenzen sofort abzurufen und darauf zu reagieren. Sichtlich genervt, versucht Anna zwischen den Funklöchern auf der Bahnstrecke einige für Außenstehende banal klingende Telefongespräche zu führen. Außer der Suche nach einer Netzverbindung, vordergründig höflich sucht sie die Verbindung vom Gang aus, hat Anna nach einigen Stunden Fahrt noch nichts erledigt und nur weinge Sätze mit ihrer Mutter gesprochen. Auch Annas Privatleben findet im Social Web statt, dort hält sie Kontakt zu einem alten Freund und einer neuen Flamme. In Annas Leben sind die Menschen zu Jenga-Klötzen geworden, die ständig neu gestapelt werden und in jedem Moment das Bauwerk zum Einsturz bringen können.


    Ulla, die im Großraumbüro Bahnabteil aus dem Fenster sieht oder schläft, wirkt im Vergleich zu ihrer Tochter wie ein Anachronismus. Aus Ullas Sicht werden wichtige Dinge (die zunehmende Altersdemenz ihrer Mutter/Annas Großmutter) nur flüchtig abgehakt, während Anna Stunden mit dem Austausch von Banalitäten verbringt.


    Nina Pauer (Jahrgang 1982) stellte schon als Achtjährige fest, dass Besitz zur Voraussetzung für Kommunikation werden kann. Als ihr Brieffreund ihr von "Zelda" berichtet, kann sie nur mithilfe der Erklärung des Konsolenspiels durch ihren Klassenkameraden Martin ihre Wissenslücke vertuschen. Den Gameboy erlebt Pauer damals als "ein Jungsding", dessen Besitzer mehr wissen und einfach besser sind. Bereits in Pauers Jugend bahnt sich die Entscheidungsschwäche an, die wir an Anna und Markus beobachten konnten. Alle Augenblicke des Lebens wurden als groß und mitteilenswert genug angesehen, um auf VHS aufgezeichent zu werden. In Annas Leben sind Momente allein dadurch wichtig, dass sie mit anderen geteilt werden. Die Kommunikation über das, was man vielleicht einmal miteinander tun könnte, frisst Annas Freizeit, in der sie im realen Leben Freunde treffen könnte.


    Pauer analysiert zwischen ihren locker zu lesenden Beobachtungen im ICE, wie die Reisenden mit ihrer Lebenszeit umgehen - Vorgänge, die für sich sprechen. Ob als Smartphone-User oder Eltern eines voll verkabelten Jugendlichen, jeder kann sich in den Figuren wiederfinden. Die Autorin beschreibt die Mobiltelefone im Leben ihrer Protagonisten wie virtuelle Lebewesen, die mehr Aufmerksamkeit erfordern als reale Menschen. In dieser Welt stehen sich auf beiden Seiten eines kommunikativen Grabens ein von IT-Besitzenden bewohnter Moloch und die außerhalb liegende Randzone derer gegenüber, für die Geräte noch Geräte sind (S. 76). Wer als Verweigerer der ständigen Verfügbarkeit am Rand aufgestellt sei, sei entweder zu alt, zu jung oder entscheide sich bewusst dagegen. Die Fronten derer, die nicht miteinander kommunizieren können, zeigen sich in Vorwürfen, Neid oder Besorgheit.


    Fazit
    Nina Pauer konfrontiert uns mit einer Generation der Patchwork-Identitäten, die mittels moderner Kommuikationsmethoden Entscheidungen in Beziehungen bis zur letzten Minute hinauszögert, um die ultimative, wirklich wichtige Begegnung nicht zu verpassen. Das Taktieren um den richtigen Zeitpunkt ersetzt in Annas Leben längst reale Kontakte. Annas Situation schreibt die Autorin nicht weiter fort. Falls Anna sich denn dazu entscheiden könnte, wird eines Tages ihr Kind erleben, dass seine Mutter ihm nicht ins Gesicht sieht, während sie mit ihm spricht und dabei in ein kleines Kästchen tippt.


    Die launige Bestandsaufnahme unterhält, trägt zum Überwinden des Grabens zwischen Moloch und Pampa jedoch wenig bei. Dazu müssten die Gegenspieler der Hauptfiguren (Markus Frau Lena und Ulla) als ernstzunehmende Gesprächspartner und weniger klischeehaft dargestellt sein.


    7 von 10 Punkten