Toshiki Okada: Die Zeit, die uns bleibt. Erzählungen
S. Fischer 2012. 160 Seiten
ISBN-13: 978-3100540171. 16,99€
Originaltitel: Watasitachi Ni Yurusareta Tokubetu Na Jikan No Owari
Übersetzerin: Heike Patzschke
Verlagstext
Die junge Generation Japans: Toshiki Okada ist einer von ihnen. Seine Theaterstücke werden weltweit aufgeführt, immer wieder auch in Deutschland. Okada beschreibt in »Die Zeit, die uns bleibt« den Zustand einer Generation, die von Kriegen umgeben ist, die in einem Land lebt, das von Tsunamis und Reaktorunfällen heimgesucht wird, in dem der Wirtschafstboom längst vorbei ist. Eine Generation ohne Zukunft, möchte man glauben, aber auch sie haben eine Zukunft, sie wissen nur noch nicht, wo. Und so lange besaufen sie sich, haben Sex mit Unbekannten in runtergekommen Love Hotels, warten, dass die Kakerlake in ihrer schimmligen Wohnung im Schrank verschwindet. Das ist hart, das ist gut, Okada ist die neue Stimme Japans.
Der Autor
Toshiki Okada ist Theaterautor, Regisseur und Schriftsteller und über Japans Grenzen hinaus bekannt. Besonders in Deutschland hat er eine Fangemeinde. 1997 gründete er die Theatergruppe Chelfitsch, deren Stücke eine Mischung aus Sprechtheater und Tanz sind. Okada wurde 1973 in Yokohama geboren. ›Die Zeit die uns bleibt‹ ist sein erster Roman und wurde 2008 mit dem Kenzaburo Oe-Preis ausgezeichnet.
Inhalt
Zwei Erzählungen - zwei unterschiedliche Milieus. Kurz vor der Invasion der USA in den Irak (2003) sind einige junge Leute, teils schon angetrunken, in Tokio unterwegs. Ein Mann und eine Frau treffen sich während einer Performance ausländischer Künstler. "Hier war eben Japan." (S. 33) Die kulturellen Unterschiede zwischen Japan und der westlichen Welt werden durch die Performance deutlich und in der unterschiedlichen Art, in der in Japan und anderswo gegen den bevorstehenden Krieg demonstriert wird. Ohne die ausländischen Besucher wäre der Irak-Krieg in Japan ein Thema weniger Demonstranten geblieben. Das Paar, das sich hier zum ersten Mal trifft, stellt sich einander noch nicht einmal vor, Miffy nennt einer von beiden sich mit seinem Usernamen. Beiläufig und beinahe wortlos, als würden sie nur ein Bier miteinander trinken, landen die zwei in einem Taxi nach Shibuya, um dort in einem Love-Hotel einzuchecken. Eigentlich gehört es sich nicht, dass der Taxifahrer so genau mitbekommt, was sie vorhaben, aber sehr wichtig scheint ihnen die Wahrung der Fassade nicht zu sein. Vier Nächte und fünf Tage verbringen die beiden ohne Kontakt nach außen im Hotel, das sie nur verlassen, um eine Kleinigkeit zu essen zu kaufen. Länger hätte das gemeinsame Geld nicht gereicht. Man könnte auf die Idee kommen, dass das Paar erst Sex haben muss, um danach miteinander reden zu können. Als sie das Hotel verlassen, hat der Irakkrieg begonnen; die Beziehung der beiden ist zu Ende.
Die zweite Geschichte erzählt Okada aus der Sicht einer Frau, die abwechselnd ihr Zimmer und aus der Vogelperspektive beschreibt, was ihr abwesender Mann gerade tut. Die beiden sind um die dreißig und führen eine (für Japan klassische?) Beziehung, in der der Mann Geld zu verdienen hat und seine Frau das Recht beansprucht, an seinen Ernährer-Qualitäten herumzunörgeln. Die Icherzählerin hängt zu Hause herum und wird sich später krank melden, weil sie zu ihrem Job in einem Callcenter keine besondere Lust hat. Ihr Mann arbeitet nachts als Koch und beginnt jeden Morgen sehr zeitig seinen zweiten Job in einem Drogeriemarkt, ohne zwischendurch zum Schlafen nach Hause zu kommen. Die "Dankbarkeit" seiner Frau drückt sich in den Nachrichten aus, die sie ihm auf sein Handy schickt. Das trübselige Zimmer, das beide bewohnen, wird beherrscht vom Laptop der Frau, mit dem sie ständig online ist auf der Suche nach interessanten Blogs. Am liebsten liest sie Blogs von Menschen, die wie sie selbst mit schwierigen Kunden zu tun haben. Sie kann dabei nicht von der Idee lassen, dass auch ihr Mann bloggt und sie erfahren würde, was er über sie denkt, wenn sie nur sein Blog finden könnte. Wenn die Erzählerin zwischendurch ihren Mann aus der Vogelperspektive beobachtet, wie er mit dem Kopf auf der Theke seines Restaurants schläft, fragt man sich, wann der arme Mann zwischen seinen Jobs die Zeit zum Bloggen finden soll.
Fazit
Beide Erzählungen treten durch die gewundenen, endlos wirkenden Sätze hervor, die in eigenartigem Kontrast zu den banalen Ereignissen stehen, die sie beschreiben. Erzähler, Erzählperspektiven und die Tonlage wechseln häufig, ohne dass sofort klar ist, wer gerade erzählt. Aus einigen Szenen tritt der Beobachter förmlich heraus und in Distanz zum Geschehen.
Der schmale Band ist konzentriert Lesenden mit Interesse am modernen Japan empfohlen.
Textauszug
"Es herrschte reger Autoverkehr, und neben den Fahr- und Auspuffgeräuschen war eine Fülle mannigfaltiger Laute und Töne zu vernehmen, deren Herkunft man im Einzelnen nicht hätte bestimmen können. Zunächst unter dem Namen Lärm gebündelt, formten sie sich zu einem unsichtbaren Strudel, und während sie - aus welchem Grund auch immer - kreisend in der Gegend herumwirbelten, stiegen sie, erwärmt von der Abendluft, in die Höhe, und als sie hoch genug schwebten, begannen sie sich von dort oben ein Bild von dem Geschehen unten zu machen, doch als die verstreuten Lichter immer schwächer und diffuser wurden, je weiter diese sich von ihren Quellen entfernten, und all diese schemenhaften Wesen schließlich zu einem einzigen Gebilde verschmolzen, erweckte dies gleichsam den Eindruck, als habe sich schwerer Rauch dort unten zusammengeballt und angestaut." (S. 10)
8 von 10 Punkten