Hikikomori - Kevin Kuhn

  • Hikikomori - Kevin Kuhn



    ISBN: 3827011167


    Verlag: Berliner Verlag


    Erscheinungsjahr: 2012


    Seitenzahl: 240



    Über den Schriftsteller:
    Der in Göttingen geborene Kevin Kuhn studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Religionswissenschaft in Tübingen sowie Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim.
    Nach Auslandsaufenthalten in Mexiko-City und Alaska nahm der ehemalige Stipendiat des textwerk-Romanautorenseminars des Literaturhauses München eine Tätigkeit als Lehrbeauftragter in Hildesheim am dortigen Institut für literarisches Schreiben an.
    Kevin Kuhn lebt in Berlin.


    Über den Inhalt:
    Till, Sohn des Schönheitschirurgen Oskar und der Kuratorin eines innovativen Schaumraums Karola, lebt ein behütetes Leben mit allen Freiheiten.
    Als er mit einem Brief nach Hause kommt, in dem ihm und seinen Eltern mitgeteilt wird, dass Till nicht zum Abitur zugelassen ist, beschließt er, sich zurückzuziehen und über seine Zukufnt nachzudenken. Mehr und mehr vergräbt sich Till in seiner eigenen Welt.


    Meine Meinung:
    Kevin Kuhn hat mit seinem ersten Roman "Hikikomori" ein ganz außergewöhnliches Debüt abgeliefert, das sich von vergleichbaren Romanen nicht nur duch einen besonderen Titel, sondern auch durch eine starke Gestaltung des Titelbildes auf sich aufmerksam macht.
    Im Mittelpunkt der Geschichte steht Till, der mit allen Freiheiten ausgestattet ist, die freieste Waldorfschule der Welt besucht und sich nicht von anderen Heranwachsenden unterscheidet.
    Wie andere in seinem Alter auch besucht er Partys, spielt Computerspiele und ist mit Kim befreundet, die aus weniger guten Familienverhältnissen stammt und künstlerisch begabt ist.
    Mit dem Tag, an dem Till nicht zur Abiturprüfung zugelassen ist, beginnt sich das Leben des jungen Mannes schleichend zu verändern.
    Kevin Kuhn hat sich ganz hervorragend darauf verstanden, in seinem Romanerstling mit leisen und besonderen Tönen von der Situation seines Protagonisten zu erzählen, der an einer Schnittstelle steht und sich Gedanken über den Fortgang seines Lebens machen muss.
    Zwar versichern Tills Mitschüler ihm, dass er noch dazugehört und auf ihren Partys gern gesehen ist, doch Till spürt bereits eine kurze Zeit danach, im Abseits zu stehen.
    Die Veränderungen und das Abnabeln leitet Schriftsteller Kevin Kuhn mit einer E-Mail von Till an Kim ein und lässt seinen Protagonisten einen entscheidenden Satz schreiben: "ich will raum und zeit selbst bestimmen".
    So zieht Till und mit ihm der Leser sich immer tiefer in eine freiwillige (Gedanken-)Gefangenschaft zurück, denen sich tagebuchartige Aufzeichnungen anschließen. Rückzugsgebiet ist Tills Zimmer, das er nur einmal täglich verlässt, um zu essen und seine Notdurft zu verrichten.


    Doch Kevin Kuhn beschränkt sich nicht auf die Innenansichten seines Protagonisten; er gibt auch den Randfiguren Raum zur Entwicklung und geht auf das besondere Verhältnis von Anna-Maria zu ihrem Bruder Till ein oder auf die Freundschaft zu Jan, der für Oskar vielleicht der bessere Sohn gewesen wäre.
    All diese Schilderungen, insbesondere das Verhältnis von Raum und Zeit, das auch Oskar, Jan und Anna-Maria in ihrer Kindheit thematisiert haben, enthalten eine Vielzahl von Anspielungen, auf die der Schriftsteller am Ende seines stilistisch ansprechenden Romans zurückkommt.
    So wie im Verlaufe der Handlung die Sorge der Familie um Till zunimmt, so muss auch der zurückgezogene Sohn erkennen, dass seine autarke Welt nur bedingt funktioniert und er nicht allein überleben kann.


    "Hikikomori" hat Kevin Kuhn seinen Roman genannt; ein Wort, das der japanischen Sprache entstammt und für "sich einschließen, gesellschaftlicher Rückzug" und für das Phänomen einer lost generation steht, die sich einer modern funktionierenden Gesellschaft verweigert.
    Eine Antwort, warum sich Menschen isolieren, gibt Kevin Kuhn in seinem Roman nicht.
    Hoffnung dürfte allerdings das Romancover bieten, zeigt es doch den Schwanz eines Salamanders, der zwar verloren gehen mag, sich jedoch eines Tages regenerieren wird.
    So wie vielleicht das Leben von Till.


    Kevin Kuhn hat mit "Hikikomori" einen beachtlichen, feinsinnigen und nachdenklichen Romanerstling vorgelegt, dem zu wünschen bleibt, von einem großen Lesepublikum entdeckt zu werden.
    Uneingeschränkte Leseempfehlung!

  • Sind das Hyazinthen?


    Till Tegetmeyer hat das zweifelhafte Glück, ambitionierte Eltern zu haben - ambitioniert vor allem in Bezug auf sich selbst und die persönliche Entfaltung. Was die Kinder - Till und seine jüngere Schwester Ann-Marie - treiben, wird unter "sie müssen ihre Erfahrungen sammeln" subsummiert, was letztlich bedeutet, dass der vermögende Vater, Schönheitschirurg, und die egozentrische Mutter, die eine Art Möbelgalerie namens "SchauRaum" betreibt, das nötige Geld bereitstellen, die Jugendlichen aber ansonsten tun lassen, was auch immer diese tun wollen.


    Es ist vermutlich diese anleitungs- und prinzipienfreie Umgebung, die Till ins Taumeln kommen lässt, als am Ende seiner schulischen Laufbahn plötzlich sämtliche Lebensplanungen platzen: Er wird nicht für das Abitur zugelassen. Till sieht sich seines Umfelds beraubt, muss eine Abzweigung nehmen, während alle anderen voranschreiten, nicht selten in den Fußstapfen der Eltern. Und so kommt er ins Grübeln. Seine Antwort lautet: Rückzug. Selbstfindung. Isolation. Hinterfragung.


    Aus dem Zimmer, das Till von allen Möbelstücken bis auf Matratze und Computerarbeitsplatz befreit, wird die Box, die ganz persönliche, freie und neu auszufüllende Projektionsfläche für das Projekt Selbstauslotung. Der Erkenntnis, die Schablonen nicht zu verstehen, folgt der Versuch, eigene Ideale zu finden, aus der von anderen schablonierten Welt auszubrechen. Zunächst hält Till losen Kontakt nach außen, begegnet auch hin und wieder noch der Familie, geht sogar auf eine Party, aber sein Unvermögen, das Geschehen um sich herum zu verstehen, gar dort die eigene Position zu finden, zwingt ihn immer weiter in die innere Isolation. Er spielt tagein, tagaus am Computer den Shooter "Medal of Honor", nimmt über Facebook-Statusmeldungen zur Kenntnis, was die Schwester im Nebenzimmer treibt, und entwickelt eine stark reduzierte Kommunikation mit der Mutter, die zur stummen Versorgerin wird.


    Währenddessen lebt die Restfamilie weiter, als wäre nichts geschehen. Till mauert sich ein, verklebt das Fenster, verlässt den Raum überhaupt nicht mehr, bestellt sich aber über das Internet einen Leguan, der nachts an Tills Finger nagt. Der junge Mann bemerkt auch kaum, dass sein "Hikikomori" - japanisch für "gesellschaftlicher Rückzug" - inzwischen per Livestream ins Netz gestellt und von Tausenden verfolgt wird. Nach Monaten entdeckt er das Simulationsspiel "Minecraft", mit dem riesige, völlig freie Welten gestaltet und bevölkert werden können, zusammengebaut aus simplen Blöcken und einfachen Prinzipien folgend. Die von Till geschaffene "Welt 0 (Null)", reduktionistisch und endlos zugleich, markiert die Katharsis. Er glaubt, seine Lebensaufgabe, einen persönlichen Sinn gefunden zu haben; die Grenzen zwischen Virtualität und Realität sind aufgehoben. Was mit ihm selbst geschieht, wird bedeutungslos.


    Dieser sehr bemerkenswerte und intelligent konstruierte, in eigenwilligem, doch angemessenem Duktus verfasste Roman erzählt vordergründig vom Entstehen und dem Verlauf einer psychischen Störung, aber er zeichnet zugleich ein Sitten- und Gesellschaftsbild. Kuhn thematisiert Werteverfall, die Sucht nach einer Kommunikation, die keine ist, jene egozentrische Elterngeneration, die Anfang des neuen Jahrtausends damit begann, Kinder zu zeugen, und - natürlich - auch Freundschaft und Liebe. "Hikikomori" ist ein spannendes, packendes, unkonventionelles Buch, streng komponiert, präzise und feingeistig erzählt, und mit viel Empathie für seine exemplarische Hauptfigur ausgestattet. Wenn es etwas Negatives anzumerken gäbe, dann höchstens, dass sich der Stoff auch als Kurzgeschichte oder Novelle hätte wiedergeben lassen - "Hikikomori" wirkt zuweilen etwas gedehnt, was auch die Perspektivwechsel nicht auszugleichen in der Lage sind.


    Meine Lieblingsstelle ist jene, als Till am Anfang des Experiments eine Party besucht. Sein persönlicher Fokuswechsel wird überdeutlich, als alle auf das Geschehen konzentriert sind, er jedoch Dinge wahrnimmt, die niemanden sonst interessieren. Daher auch der Titel dieser Rezension.

  • Der Eindruck vom Lesen ist noch so stark, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Denn der Roman hat mich in seinen unzähligen Aspekten geradezu überwältigt und einen tiefen Eindruck hinterlassen. – Hikikomori ist viel mehr als ein Buch über einen Jungen, der sich allmählich von der Welt zurückzieht, seine utopisch anmutende Parallelwelt aufbaut, der den Kontakt zu der alten Umgebung immer mehr kappt, äußerlich verwahrlost und innerlich doch aufzublühen scheint. Hikikomori ist ein Buch aus unserer Zeit und über unsere Zeit.
    Wer sich darauf einlässt (was natürlich etwas Anstrengung bedeutet), erfährt diesen unheimlich Sog, den radikale Lebenswege versprühen. Die Figuren sind allesamt so authentisch und psychologisch feinfühlig beschrieben, dass man meinen würde, echte Menschen vor sich zu haben. Auch wenn man vielleicht sagt, solche Eltern kenne ich nicht, oder mein Sohn oder meine Tochter würden so etwas nie tun, ist Tills Rückzug doch glaubhaft eine der Möglichkeiten unserer Zeit. Eine Zeit, und das wird in dem Roman von Kevin Kuhn schnell klar, die zwar anstrengend und fordernd ist mit ihrem Innovations- und Selbstfindungsdrang, die aber auch viel bietet, gerade auf dem Kontinent der Digitalen Welt.
    Dieses Buch ist ein Muss. Man wird sich daran stoßen. Man wird aber auch als ein Anderer die Geschichte verlassen.