Premier Livre. Erste französische Lesestücke - Christiane Reichholdt (Hrsg.in und Übersetzerin)

  • Gleich, ob man eine Fremdsprache lernt oder sie unterrichtet, es kommt der Zeitpunkt, an dem man sich vom Lehrbuch selbst trennen möchte und möglichst eigenständig fremdsprachige Texte lesen. Sind sie zunächst kurz, umso besser. Eine Zusammenstellung von Texten, die zweisprachig angeboten wird, scheint eine glückliche Lösung. Original und Übersetzung stehen nebeneinander, wenn es beim Lesen in der Fremdsprache hakt und Verständnisprobleme auftauchen, kann man sich gleich wieder Sicherheit verschaffen. In dem Büchlein Premier Livre, eine Sammlung kurzer französischer Lesestücke, kann man derart erste freiere Schritte wagen. Rund fünfzig Texte laden dazu ein.


    Es beginnt mit ganz wenigen Zeilen, mit Wortspielen, Liedern, schließlich folgen kürzere und dann Geschichten, die einige Seiten lang sind. Es wurde darauf geachtet, daß sich Erfolgsgefühle rasch einstellen können. Ausgewählt wurden Texte nicht nur französischer Autorinnen und Autoren, auch einige SchweizerInnen sind darunter. Scherenschnitte schmücken die Geschichten. Das ist zusammengenommen alles, was noch für dieses Anthologie spricht. Tatsächlich leidet sie an einem großen Problem und scheitert daran dann auch: die Texte sind hoffnungslos altmodisch.


    Sie stammen aus französischen Grundschulbüchern, aus Kinderbüchern und aus der Literatur, allerdings nicht der neuen. hre Autorinnen und Autoren gehören in der Mehrzahl zur Generation der Urgroßeltern und Großeltern. Jacques Prévert (1900 - 1977) und Anne Sylvestre (geb. 1934) sind die jüngsten von ihnen. So gut und beliebt Pagnol, Lina Roth, Maurois, Charles-Ferdinand Ramuz (ein Schweizer Kinderbuchautor) u.a. auch gewesen sein mögen, iher Texte klingen angestaubt. Süße kleine Mädchen in Blumengärten, sprechende Tiere, träumende Pflanzen, die Wanderungen des Plüschteddys Michka, ein Abenteuer Tartarins von Tarascon, viel Rosarot und Himmelblau geben ein höchst seltsames Bild der französischen Kultur. Das hat mit dem Leben heute nichts zu tun. Das ganze Buch wirkt wie aus einer längst verschwundenen märchenhaften Zeit.


    Für Erwachsene, die franzöische Texte lesen wollen, sind die vorliegenden zu betulich-weltfern, Teenager werden sich zurecht veralbert fühlen, während Kinder, sollten sie mit dem Vokabular überhaupt zurecht kommen, in ihrem Eindruck bestätigt werden, daß Erwachsene doch immer wieder hochgradig kindisch sein können.
    Eine Anthologie mit zeitgenössischen Texten wäre dringend nötig, mit dieser hier läßt sich nicht mehr arbeiten.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von magali ()