Der Klappentext:
Winnies Koffer wurde gestohlen. Mitten in der Nacht, von einem Mädchen mit brandrotem Haar, verräterisch leuchtenden Haaren, wie Winnie selbst sie einmal hatte, früher, als sie noch Lillian hieß, oder Patsy. Nichts ist der alten Frau nach diesem Raub geblieben. Der Koffer hat sie seit Kindertagen begleitet, er enthielt kaum etwas, und doch alles, was sie besaß, alles, was sie mit ihrem Leben verband, über das sie längst aufgehört hat, nachzudenken. Die Überlebensstrategie dieser bettelarmen und radikal einsamen alten Frau ist bislang der feste Tagesplan gewesen: Früh zum Markt, Obstkisten besorgen als Brennholz, um in dem verlassenen Schusterladen zu heizen, in dem sie haust, etwas zu Essen auftreiben, den Leuten zuschauen, nicht nachdenken, sich nicht erinnern an das, was verloren ist. Doch wie es scheint, war diese Ausblendung nur möglich, solange es die greifbaren Erinnerungsstücke im Koffer gab. Unter dem Eindruck des Verlusts lässt sich die Erinnerung nicht länger zurückdrängen, und Winnie beginnt zu erzählen.
Die Autorin:
Trezza Azzopardi (Jahrgang 1961) wurde in Cardiff, Wales geboren und lebt heute in Norwich. Ihre Mutter stammt aus Wales, ihr Vater ist Malteser. Sie studierte Kreatives Schreiben an der University of East Anglia und hält dort heute Vorlesungen. Ihr hochgelobter erster Roman, The Hiding Place (2000, dt. Das Versteck, 2001), gewann den Geoffrey Faber Memorial Prize und wurde u.a. für den Booker Prize nominiert.
Ihr zweiter Roman, Remember Me (2004, dt. Was ich nicht vergessen darf, 2005), war auf der Nominierungsliste des Wales Book of the Year.
Neben Romanen verfasst sie auch Kurzgeschichten und Texte für BBC Radio.
Ihr neuester Roman ist The Song House (2010).
Meine Meinung:
Das Leben der 72jährigen Obdachlosen Winnie ist alles andere als gewöhnlich: in den ersten Jahren ihrer Kindheit ist die psychisch kranke Mutter ihr Lebensmittelpunkt, nach deren Tod wird sie vom lebensuntüchtigen Vater an den Großvater weitergereicht, der ihr neben einem neuen Vornamen eine Liste mit Vorschriften und Regeln überreicht, die sich auf den ersten Blick als rigoros, auf den zweiten Blick jedoch als durchaus geeignet erweisen, dem sträflich vernachlässigten Kind Halt und Orientierung zu bieten. Die geistige Verfassung ihrer Mutter hat die Kleine stark geprägt, Zeit ihres Lebens hat sie Angst vor den Geistern, die ihre Mutter so krank gemacht haben. Im Haus ihrers Großvaters wird es jedoch langsam besser - auch dank des Untermieters Mr. Stadniks, der ein Herz für die kleine Lillian hat. Dann kommt der Zweite Weltkrieg und Lillian muss zur Tante aufs Land. Als Lillian Jahre später zurückkehrt, ist ihr Großvater spurlos verschwunden, und sie schwanger und tief verzweifelt. Zufällig trifft sie auf Bernard Foy, der sie als seine Nichte Winnie ausgibt und zum gefeierten Medium aufbaut. Doch das Glück währt nur kurz und schon bald muss Winnie wieder fort.
Im Rückblick wirkt der Lebensweg der gebeutelten Winnie schon etwas überfrachtet, doch beim Lesen ist es mir gar nicht so sehr aufgefallen. Winnie erzählt ihre Geschichte überwiegend chronologisch, ausgelöst durch den Diebstahl ihres Koffers, drängen ihre Erinnerungen an die Oberfläche und der Leser wird Zeuge ihrer Reise in die Vergangenheit. Die Rückblicke werden immer wieder unterbrochen von kurzen Abschnitten, in denen Winnies gegenwärtige Geschichte weiter erzählt wird - ihre Verzweiflung lähmt sie zunächst, doch dann unternimmt sie die ersten, hilflosen Versuche, das Mädchen und ihren Koffer wiederzufinden - dennoch ist es nicht schwer, dem Lauf der Geschichte zu folgen.
Nicht ganz so einfach ist es, zu verstehen, was genau Winnie denn nun eigentlich erzählt, denn Winnie ist Zeit ihres Lebens nicht wirklich lebensstark. Ihr Verständnis der Welt ist rührend naiv und kindlich, sie ist geistig etwas zurück geblieben und die Autorin bleibt meist dicht bei ihrer Protagonistin. Obwohl Winnies Leben in vielerlei Hinsicht ein verlorenes ist, buhlt die Autorin jedoch nicht um Mitleid für ihre Protagonistin, sie verleiht ihr lediglich eine - leise - Stimme.
So manches muss sich der Leser zwischen den Zeilen herauslesen, was aber den Reiz des Buches und Azzopardis Erzählstils ausmacht. Azzopardis Sprache ist schlicht, trotzdem ergreifend, stellenweise sehr poetisch in ihrer Bildhaftigkeit, aber nie kitschig. Mir hat es sehr gut gefallen und es war sicherlich nicht das letzte Buch dieser Autorin, das ich lesen werde!