Versuch über den Stillen Ort - Peter Handke

  • Der Stille Ort des Titels trägt die beiden Großbuchstaben als Anfangsbuchstaben mit Absicht. Der Ort der Körperlichkeit an sich ist Ausgangspunkt eines autobiographischen Essays über die Literatur und die Welt der Stille.
    Handke, der sich vorgeblich bescheiden auf den großzügig bedruckten rund 110 Seiten als ‚Äuger’, Betrachter bezeichnet, ist bekanntlich viel mehr als einer, der nur hinschaut. Er schaut zum einen genau hin, zum anderen benennt er unverzüglich, was er sieht, und schreibt es nieder. Er ist Wortsucher und Wortfinder für exakt das, was er auszudrücken wünscht. Er notiert seine Worte nicht zum Deuteln, was er hinschreibt sind sichere Planken unter den Füßen, klein, aber fest, der Halt, den eine braucht, wenn es dann darum geht, in die fragilen Welten aufzusteigen, die Handkes Worte eröffnen. Anders als der Titel suggerieren mag, geht es in diesem Essay nicht um Körperliches, sondern um Geistiges.


    Der erste Stille Ort, den Handke aufführt, ist demnach auch einer aus der Literatur. Mit der Erinnerung daran kommen die Gedanken an die Stillen Orte seiner Kindheit und das, was sie ausmachte, die Stille nämlich. Damit sind wir bei den stillen Orten, dort, wo man Ruhe findet, sich abschließen kann von anderen, mit und ohne Tür und Schloß. Abgesehen von den Toiletten sind das Nischen und Winkel, Schuppen, Heuraufen, Beichtstühle und Friedhöfe bis hin zu einem Moment persönlicher Trauer, der inmitten anderer aus einem selbst einen stillen Ort machen kann.
    Zwischen diesen beiden Arten von Ort wechseln die Gedanken hin und her. Die Ruhe ist von Bedeutung und das ganz eigene Licht dieser abgeschiedenen Orte.


    Das Licht ist gedämpftes Sonnenlicht und Licht der Sterne, von dem Roman Cronins ‚Die Sterne blicken herab’ bis zu dem Blick auf einen wirklichen Sternenhimmel vor langer Zeit aus dem Oberlicht einer Toilette in einem winzigen sowjetischen Flugzeug. Sanftes Licht als Lebensspender, das wesentliches Element der Ich-werdung, schließlich in einer japanischen Tempelanlage, und das wiederum, natürlich, wir sind lauschen einem sehr belesenen Autor, mit Bezug auf einen weiteren Autor, Tanizaki und dessen Betrachtungen der Tempelaborte in Nara. Danach Stille Orte in Afrika, etwa, und immer wieder aus Büchern, Literatur und Sachbücher, etwa eine Toilettenanlage von Hundertwasser in Neuseeland, seltsame, kaum als solche erkennbare Abtritte in Lateinamerika, in ganz Europa. Dieser kleine Essay von Handke umspannt fast die ganze physische Welt.


    Handke erzählt keine Toilettengeschichten, wohl aber Geschichten davon, wie man Toilette machen kann vor Ort. Es sind überraschende Einblicke in Vorgänge und psychische Befindlichkeiten, Begegnungen, die wesentlich sind für die eigene Geschichte Handkes, aber sofort Gedanken der Leserin anstoßen über das Menschen eigene Sozialverhalten. Über das Heimischwerden für kurze Zeit in der Stille und was man davon mitnimmt, wenn man die Stille verläßt. Über den Einfluß von Orten und der ihnen zugrundeliegenden Geometrie auf das eigene Ich.
    Zum Ende hin dann Aussagen Dritter über den Stillen Ort, vorsichtig eingeflochten in die eigenen Erfahrungen. Begegnungen, auch mit dem Tod. Seltsam wohl deswegen, weil der Ort der schieren Körperlichkeit eher Gedanken an das Leben suggeriert als an Sterben und Tod. Aber natürlich gehört er dazu, zu der Stille.


    Dennoch schließt die Betrachtung nicht still, wie könnte sie auch. Es ging darum, etwas in Worte zu fassen, nicht darüber zu schweigen. Ein überraschender Gedankensprung und doch passend. Passend auch die wunderschöne Ausstattung, allem vorna ein Schutzumschlag, der die ersten Seiten das handschriftlichen Manuskripts - mit Bleistift! - zeigt.


    Autobiographische Entblößung (vor dem Wort gibt es keine Scham), literarisch-philosophische Betrachtung (man kann nie genug lesen und erfahren), Wort gewordenes feinstes Beobachten (alles, was man sieht und hört, ist es wert, in Worte gesetzt zu werden), Welt durchdringend (der Geist steht allemal über dem Körper, letzten Endes).
    Handke eben.


    ASIN/ISBN: 3518423177

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Wunderbare Rezi, brillant wie immer und wie gewohnt. Herzlichen Dank dafür. Handke ist immer mal wieder einen Leseversuch wert. Das Buch wird dann auch gleich auf meine Wunschliste gepackt. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • :lache
    Na, bei mir setzt es bekanntlich immer aus, wenn ich einen Text von Handke vor mir habe.
    Sucht ist halt Sucht.


    Die anderen drei 'Versuch über ...' habe ich schon im Visier. Nicht, daß sie nicht längst im Regal stünden...
    :rolleyes




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus