Michael Köhlmeier - Die Abenteuer des Joel Spazierer

  • Kurzbeschreibung:


    „Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden.“ Joel Spazierer, geboren 1949 in Budapest, wächst bei seinen Großeltern auf und ist vier Jahre alt, als sie von Stalins Schergen abgeholt werden. Fünf Tage und vier Nächte verbringt er allein in der Wohnung und lernt eine Welt ohne Menschen kennen. Es fehlt ihm an nichts, er ist zufrieden. Eher zufällig findet ihn seine Mutter, die noch Studentin ist. Joel Spazierer lernt nie, was gut und was böse ist. Sein Aussehen, sein Charme, seine Freundlichkeit öffnen ihm jedes Herz. Er lügt, stiehlt und mordet, ändert seinen Namen und seine Identität und betreibt seine kriminelle Karriere in vielen europäischen Ländern. Die Geschichte, die er uns ganz unschuldig erzählt, ist ein Schelmenroman über die Nachtseiten unserer Gesellschaft wie es noch keinen gab.


    Meine Meinung:


    Michael Köhlmeiers „Abendland“ ist auf meiner persönlichen Bestenliste unter den ersten 3, aber auch „Madalyn“ und „Idylle mit ertrinkendem Hund“ aus seiner Feder haben mir gut gefallen. So nimmt es nicht wunder, dass ich mit großen Erwartungen an seinen neuen Roman heranging – die leider nicht wirklich erfüllt wurden.


    Auf epischen 650 kleinbedruckten Seiten lässt Köhlmeier seinen Protagonisten aus dessen bewegten Leben erzählen. Joel Spazierer, was nur eine seiner Identitäten ist, kam viel herum auf der Welt und überall ebneten ihm sein gutes Aussehen, sein Charme und seine Manieren Tür und Tor, obschon er ein Verbrecher, ein Lügner, Dieb und gar Mörder ist. Köhlmeier trägt dick auf, mitunter hatte ich schon fast den Eindruck, eine Satire zu lesen, so haarsträubend sind einzelne Episoden und Wendungen. Stilistisch fehlte mir ein wenig die sonstige Eleganz des Autors, dieser Roman ist zwar souverän geschrieben, aber nicht so beachtenswert und rund, wie ich es von Köhlmeier gewohnt bin.


    Inhaltlich ist zwar vieles übertrieben, aber auf seine Art schon fesselnd – sofern man Geduld hat. Bei der Seitenanzahl darf es nicht verwundern, dass es nicht nur die eine oder andere Stelle gibt, die weitschweifig ist bis zur Langatmigkeit. Interessant gemacht ist es, dass in einem Kapitel lang und breit von Nebensächlichkeiten berichtet wird und auf den letzten paar Zeilen dann geht die Bombe hoch, die alles durcheinanderwirbelt und die Karten neu mischt bzw. Joel Spazierers Leben eine andere Wendung gibt. Beim Erzähler übrigens bin ich mir auch nach Beendigen des Buches nicht im Klaren, ob er mir trotz seiner Taten und seines Lebenswandels sympathisch ist oder nicht. Für Köhlmeier-Leser gibt es auch ein flüchtiges Wiedersehen mit Sebastian Lukasser, der mit Joel Spazierer befreundet ist und diesen erst auf die Idee gebracht hat, das Buch zu schreiben und ihn sogar eine Zeitlang bei sich wohnen läßt.


    Was mich am meisten in meinem Lesefluß gestört hat, sind die philosophischen und theologischen Exkurse – so etwas mag ich an sich recht gerne, etwa wie sie in Heinrich Steinfests Büchern eingeflochten werden, hier jedoch fühlte ich mich davon beinahe erschlagen. Und wenn der Verlag dieses Werk als „Schelmenroman“ bewirbt, dann habe ich a) entweder eine falsche Vorstellung der Begriffsdefinition oder b) ist das ein Marketingtrick.


    Fazit: an Köhlmeiers Meisterwerk „Abendland“ kommt „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ bei weitem nicht heran, es ist aber zumindest zwischendurch immer wieder fesselnd und erzählt ein ganzes Leben abseits der üblichen Moral- und Wertevorstellungen.

  • Michael Köhlmeier hat mit „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ einen weiteren großen Roman vorgelegt, in dem auch sein Alter Ego Sebastian Lukasser seinen Platz einnehmen konnte. Dieser lenkt die Gedanken des unterdessen gealterten András Fülip, inzwischen nennt er sich Joel Spazierer, so, dass er diese für ein Buch festhalten kann. Lukasser ist der einzige Freund, den Spazierer je hatte und obwohl er alles über ihn weiß, hält er ihm die Treue. Wie bei allen seinen Romanen bewegt sich der Autor auch bei diesem auf einem sprachlich hohen Niveau. In diesem Roman gab es unglaublich skurrile Passagen und auch die ganz leisen, nachdenklich stimmenden. Gelegentlich ist der Leser von den Erzählungen des Protagonisten genarrt, weil man ihm vertraute und nun feststellen muss, alles ist dann doch anders. Michael Köhlmeier nennt seinen Roman selbst einen Schelmenroman und trifft es damit im Großen und Ganzen ziemlich genau. Der Protagonist erzählt seine Autobiografie, begibt sich auf Reisen, durchläuft verschieden gesellschaftliche Schichten, schafft es jedoch immer sich aus brenzligen Situationen zu retten und wird oft am Ende geläutert. Ob letzteres auch bei Joel Spazierer der Fall ist, lasse ich an dieser Stelle offen.


    Der Roman wird nicht streng chronologisch erzählt. Der Autor springt mit Joel Spazierer durch dessen Leben. Die einzelnen Erlebnisse werden in einen Rahmen aus gegenwärtigen Betrachtungen des in zwischen über 60jährigen Protagonisten in 12 Kapiteln eingeflochten.


    „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ ist ein Roman, der gute, abwechslungsreiche und kurzweilige Unterhaltung bietet und obendrein zum Nachdenken anregt. Dabei gibt es Anlehnungen an andere literarische Werke. Der Autor selbst nennt Grimmelshausen, ich meine auch noch Günter Grass und John Irving erkannt zu haben. Michael Köhlmeier beweist einmal mehr, welch begnadeter Autor er ist. Bisher wurde ich von seinen Büchern noch nie enttäuscht, obwohl die Erwartung von Mal zu Mal höher ist. Wer gern einem, einen ganzen Roman bestimmenden, Protagonisten durch sein bewegtes Leben folgen möchte, sich auch für die Abgründe menschlicher Charaktere interessiert und dabei das Zeitgeschehen aus dessen Sicht erleben möchte, wird mit diesem Roman gut beraten sein.

  • Ja. Nein. Weiß nicht.


    "Gut" und "schlecht", das sind, obwohl wir dazu neigen, genau das zu glauben, keine absoluten Kategorien, sondern in ihrer alltäglichen Anwendung moralische Axiome, und Moral ist menschengemacht, politisch, wandelbar, zuweilen wachsweich, manchmal Werkzeug, manchmal Waffe, oft Willkür. Ein Mord ist schlecht, denken wir, nehmen das gar als Wahrheit an, aber das Attentat auf den Tyrannen ist so schlecht dann wieder nicht, und die Hinrichtung des Massenmörders vielleicht auch nicht. Im Krieg ist Mord legal. Und damit plötzlich in gewisser Weise sogar gut, denn Kriege gewinnt meist jene Partei, die viele Feinde tötet. Zugleich gut und schlecht aber kann nichts sein, also muss eines von beidem stimmen. Nur: Was? Und: Warum?


    Joel Spazierer entzieht sich der Moral, hat nie gelernt, das Paradigma zu verinnerlichen. Als kleines Kind, da hieß er noch András und lebte in Budapest, verbrachte er fünf einsame Tage in der Wohnung der Großmutter, weil er bei einer Razzia übersehen und vergessen wurde. Während dieser Zeit fand der spätere Joel Spazierer heraus, dass er sich selbst genügt, um die Welt zu verstehen, wenigstens mit ihr umzugehen. Sehr gut aussehend, aber wandlungsfähig, intelligent, aber nicht brillant, distanziert, aber nicht unfreundlich, sogar von gewinnender Natur, manchmal naiv, aber ein überwältigend guter Beobachter, zudem über alle Maßen sprachbegabt. Sein Lebensweg führt ihn durch halb Europa, sogar als vermeintlichen Enkel des sozialistischen Helden Ernst Thälmann in die verendende DDR, jenes Land, das mehr als viele andere davon lebte, offensichtliche Verfälschungen als Wahrheiten zu verkaufen, und was immer er von sich preisgibt, ist eine präzise, gut geplante Lüge - die oft sogar sein Gegenüber selbst formuliert; Spazierer lügt dann quasi passiv. Dies stellte die logische Folge einer anderen Beobachtung dar, die er früh macht: Wer gezielt Fragen stellt, will häufig bestimmte Antworten hören und nicht notwendigerweise die Wahrheit, deren Existenz sowieso zweifelhaft ist. Schon bei seinem ersten Verhör, dem viele weitere folgen, setzt der Junge die Antworten "Ja", "Nein" und, vor allem, "Weiß nicht" gezielt ein, um genau jenes Bild zu formen, das der andere ohnehin im Kopf hat. In einem späten Kapitel schafft er es sogar, eine mit allen Wassern gewaschene Verhörspezialistin des MfS zu beeindrucken.


    Joel Spazierer durchwandert als menschliches Chamäleon das westliche, schließlich auch das östliche Europa zwischen den Fünfzigern und der Jetztzeit, stiehlt, betrügt, mordet gar, kennt jedoch keine Reue, die auch nur im Kontext von Moral existieren kann. Er tut aber auch Gutes, wenn man so nennen will, gründet Familien, wird liebevoller Vater. Währenddessen rätselt er über die moralischen Phänomene, die ihm zu begegnen scheinen, und nutzt die Erkenntnisse unbeirrbar. Michael Köhlmeier erzählt auf knapp 650 Seiten eine seltsame, gelegentlich amüsante, oft haarsträubende, wissensreiche, manchmal spannende ... ja, was eigentlich? Eine Parabel? Vielleicht ist das Buch eine Falle, die sich genau in dieser Fragestellung manifestiert.


    "Die Abenteuer des Joel Spazierer" ist fraglos exzellent geschrieben, mutet unglaublich schlau an, verblüfft mit seinen knappen, glasharten Wendungen, enthält eine Fülle von Episoden, die sehr mitreißend, erschütternd und überraschend sind, aber leider stellt sich oft ein Gefühl der Leere ein, die Zeit dehnt sich, während Fragmente angehäuft werden, die einfach kein Bild ergeben wollen. Einige Passagen und Kapitel sind schlicht langweilig, was auch die vielen Klugheiten nicht auszugleichen vermögen, die sie enthalten. Das mag vor allem daran liegen, dass man mit der Zeit das Interesse für die nahezu völlig emotionslose Figur verliert, die zwar immer wieder neue, verblüffende Tricks aus dem Zauberhut holt, aber von der ersten bis zur letzten Seite erschütternd konturlos bleibt - was, klar, ja auch zum Konzept des Romans gehört: Joel Spazierer ist eine menschliche Metapher.


    Insofern kann ich mich, nach einem Urteil über dieses Buch suchend, nur Spazierers Lieblingswendungen anschließen: Ja. Nein. Weiß nicht. Zuweilen war ich euphorisiert, begeistert, dann wieder verstimmt, nachgerade entsetzt, verlor mich in der Rätselhaftigkeit. Am Ende bleibt also das "Weiß nicht" - "Die Abenteuer des Joel Spazierer" ist zweifelsohne ein großes Buch, was die literarische Leistung anbetrifft, doch Nachhaltigkeit entfaltet die Geschichte nicht.