Ruhige Straße in guter Wohnlage - Die Geschichte meiner Nachbarn
Pascal Hugue, gebürtige Französin, wohnt seit zwanzig Jahren in Berlin, nicht im hippen Mitte oder Prenzlauer Berg, sondern mitten im alten Westberlin, in Schöneberg. Die Straße, in der sie lebt, ist nicht schön, wenige alte Gründerzeitbauten wechseln sich mit gesichtslosen fünfziger, sechziger-, siebziger Wohnblocks ab. Ihr Haus, 1904 erbaut, ist eines der wenigen Relikte dieser einst großbürgerlichen Wohngegend.
Doch trotz dieser auf den ersten Blick unspektakulären Nachbarschaft, beginnt Hugue zu graben, zu recherchieren, zu fragen und langsam die Geschichte ihrer Straße vom Anfang des letzten Jahrhunderts zu enthüllen. Und zu ihrer eigenen Überraschung tritt dabei die deutsche Geschichte im Kleinen zutage.
Diese Geschichte beginnt im gründerzeitlichen Berlin, als im Zuge der Industrialisierung reich gewordene Männer anfangen, ihr Geld in Neubauten zu investieren. Und das sind prächtige Häuser, die Fassaden sollten von Geschmack und Reichtum ihrer Bauherren künden, die Wohnungen selbst sind auf die Bedürfnisse reicher Familien mit repräsentativen Verpflichtungen und Dienstboten ausgerichtet: riesengroß und prächtig zur Straße hin, mit winzigen Mädchenkammern und dunklen Hauswirtschaftsräumen im Seitenflügel.
Doch je länger Hugue in den Archiven wühlt, umso deutlicher wird die Tragödie dieser Straße: 106 Juden wurden während des Dritten Reiches deportiert, ihre Wohnungen von Parteibonzen übernommen, ihr nicht unbeträchtlicher Besitz verscherbelt. Lilly Ernsthaft, hochbetagte Nachbarin der Autorin, ist die einzige, die zurückkehrte. Doch Hugue findet noch weitere ehemalige Bewohner der Straße, sie besucht sie, in Israel und Kalifornien, um sich von ihnen ihre Geschichte und die der Straße erzählen zu lassen.
Dieser Abschnitt über ihre jüdischen Nachbarn, nimmt einen großen Teil des Buches ein, doch Hugue erzählt auch andere Geschichten, lässt die freudlosen fünfziger Jahre wieder aufleben, als die Berliner aus ihrem Tausendjährigen Traum erwachten und sich wunderten, dass die Welt um sie herum in Trümmern lag. Aber auch das Westberlin vor der Wende, diese Insel der Glückseligen, befreit von Wehrdienst und mit eigenen Briefmarken, erwacht noch einmal zu Leben. Selbst als der erste Berlin-Hype losbrach, spielte diese Straße eine, wenn auch bescheidene Rolle. David Bowie verbrachte einige Nächte im Nachbarhaus, Otto Walkes drehte in der örtlichen Apotheke einen Film, aber Frau Soller aus dem Erdgeschoss verkaufte weiterhin unermüdlich Damenoberbekleidung im KdW.
Die Klammer all dieser Geschichten und Geschichtchen ist die Idee der Nachbarschaft, einer rein räumlichen und meist auch zufälligen Verbindung unterschiedlichster Menschen. Eine Idee, deren Verschwinden Hugue bedauert, denn auch in ihrer Straße findet die Gentrifizierung statt, sollen die Penner aus dem Pennerpark verschwinden und wollen sich wohlhabende Neubürger in Townhouses verschanzen.
Dabei ist sie sich durchaus ihrer gutbürgerlichen Perspektive bewusst. Sie bedauert den Abriss des heruntergekommenen Sozialwohnungsblocks, der einem Investorenprojekt weichen soll,würde aber selbst natürlich niemals in so einem Haus wohnen wollen. Ein wenig wehmütig konstatiert sie das Verschwinden von Messerbänkchen und Berliner Zimmern, sieht das aber auch gleichzeitig als Zeichen großbürgerlicher Dekadenz.
Pascale Hugue hat mir mit diesem Buch sehr schöne Stunden bereitet. Ich kann diese Neugier auf die Geschichte rund um den Lebensmittelpunkt sehr gut verstehen, es geht mir genauso. Doch Hugue schreibt zudem noch ganz wunderbar, ihr gelingt der Spagat, aus den unglaublich traurigen Geschichten ihrer Straße, aber auch aus den ganz normalen Skurrilitäten menschlichen Miteinanders, das Bild eines kleinen Fleckchens Erde zu zeichnen, das man einfach mögen muss. Selbst wenn es in Berlin liegt.
Autorin
Pascale Hugues, geboren 1959 in Straßburg, war von 1986 bis 1989 Korrespondentin der Tageszeitung «Libération» in Großbritannien, danach bis 1995 in Deutschland in Bonn und Berlin. Seit 1995 schreibt sie regelmäßig für das Wochenmagazin «Point» und verschiedene deutsche Zeitungen, u.a. «die tageszeitung» und den «Tagesspiegel». Daneben hat sie Filme für den deutsch-französischen TV-Sender ARTE gedreht. Für den Film «L'est c'est fini» über ostdeutsche Jugendliche und den Text «In den Vorgärten blüht Voltaire» in ihrer Tagesspiegel-Kolumne «Mon Berlin» wurde sie jeweils mit dem Prix du journalisme franco-allemand in den Sparten Fernsehen und Presse ausgezeichnet.