Feral Youth – Polly Courtney

  • Alesha ist fünfzehn und lebt in einem Viertel von London, das ebenso vorsichtig wie griffig gemeinhin als ‚Sozialer Brennpunkt‘ bezeichnet wird.
    Noch besucht sie die Schule, aber ihr Aufenthalt dort ist bereits ein Schulbesuch auf Bewährung. Dabei will Alesha gar nicht auffallen, sie hält ohnehin nur eine Front aufrecht. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, Alesha wohnt nicht mehr zuhause, sondern bei ihrem Freund Jayden und dessen demenzkranker Großmutter. Das darf das Jugendamt aber nicht erfahren. An dem Tag, an dem die Geschichte einsetzt, aber brennen bei Alesha alle Sicherungen durch, sie greift eine Mitschülerin an. Das ist das Ende ihrer Schullaufbahn.


    Aleshas Gewaltausbruch hat einen Grund. Ihr Viertel beherrschen verschiedene Jugendbanden, in der Nacht zuvor wurde einer ihrer Freunde bei einem Revierkampf getötet. Die Trauer und Anspannung sind zuviel für sie, umso mehr, als das angegriffene Mädchen, eine Klassenkameradin, zu der gegnerischen Bande gehört, die den Freund getötet haben.
    Tatsächlich hat Alesha wenig anderes gelernt, als sich mit Zähnen und Nägeln im Wortsinn durchs Leben zu beißen, kratzen, prügeln. Irgendwann lernte sie schließlich, mit einem Messer umzugehen. Das Leben, halb auf der Straße ist hart.
    Wärme und Sicherheit findet sie bei Jayden, zunächst. Dann aber wird seine Großmutter in ein Heim eingewiesen, die beiden Jugendlichen haben gar kein Dach mehr über dem Kopf. Ihre Haltung zu den Banden des Viertels ist halb von Faszination, halb von Angst bestimmt. Eigentlich wollen sie sich für keine Seite entscheiden, aber das scheint unmöglich.


    Sich unter den Schutz einer Gang zu stellen, bietet jedoch nur vordergründig Sicherheit. Gegenleistungen werden erwartet. Binnen Kurzem ist Alesha Dealerin. Sie betrachtet das als eine Mischung aus Abenteuer und Notwendigkeit, mit fünfzehn denkt man nicht an morgen. Das Leben, das sie führt, hält sie für Freiheit. Das bringt aber Probleme, die sie nicht erwartet hätte. Unvermutet ist Alesha auf der Flucht, vor der Polizei, vor dem Jugendamt, ihrer Gang.


    Als sie eine Lehrerin aus früheren, sicheren Tagen trifft, wächst in Alesha die Sehnsucht nach einer Rückkehr in ein Leben ohne Angst, mit einer Chance auf eine Zukunft. Aber Aussteigen ist alles andere als einfach. Zudem wachsen die Spannungen zwischen den Jugendlichen, der Polizei und dem Bezirksrat.


    Courtney hat ihren Roman als Reaktion auf die Jugendaufstände in London 2011 geschrieben. Sie hat gründlich recherchiert, wichtiger aber ist, daß sie das, was sie von befragten Jugendlichen erfahren hat, sehr überzeugend zur Charakterisierung ihrer Figuren einsetzen kann. Die dauernde Bedrückung, der alltägliche Rassismus, die Unsicherheit, gepaart mit einem unbändigen Gefühl von Freiheit, pubertärem Freiheitsdrang und zugleich dem Schrecken und der Hilflosigkeit angesichts der herrschenden Ungerechtigkeit werden in aller Deutlichkeit geschildert. Das gilt auch für die haarsträubenden Lebensbedingungen.
    Spannung ergibt sich zudem aus der wachsenden Erkenntnis der Jugendlichen, vornehmlich Aleshas, daß sie von den angeblich beschützenden Gangs genauso ausgebeutet und verheizt werden, wie von den angefeindeten ‚Reichen‘ oder den Behörden. Realistisch geschildert ist auch die geringe Frustrationstoleranz der Jugendlichen, ihr Ausgelaugtsein von einem Überlebenskampf, der täglich sinnloser und härter wird. Ihr nach außen asoziales Verhalten und ihre trotz allem vorhandene Fähigkeit zu Freundschaft und Fürsorge.


    Courtney entwirft unterschiedliche Lebensläufe, jeder davon schlüssig, bis hin zum in einigen Fällen schrecklichen Ende. Der Höhepunkt, die Schilderung der Nacht des Aufstands fällt dagegen ein wenig ab. Möglicherweise ist die Spannung an dieser Stelle schon zu hoch, möglicherweise fehlt die Distanz zu den Ereignissen, möglicherweise war die Autorin einfach nicht in der Lage, einen Ausbruch von solcher Zerstörungswut angemessen zu beschreiben.
    Die Folgen, vor allem für ihre Heldin Alesha, schildert sie aber wieder eindrücklich. Courtney geht hart ins Gericht mit Behörden und Journalisten. Alesha wird aufs Neue betrogen.


    Seinen ‚echten‘ Ton erhält der Roman auch dadurch, daß Courtney ihre Figuren in der aktuell geltenden Teenager – bzw. Bandensprache sprechen läßt. Ein Wörterverzeichnis ist angefügt.
    Schwieriger ist der Teil der Geschichte, der Aleshas ‚Rettung‘ gewidmet ist. Das ist etwas konservativ-sentimental geraten. Ungeschickterweise ist die Lehrerin, die Alesha unterstützt, eine Weiße, was den dummen Beigeschmack kolonialistisch-paternalistischer Beziehungen in den Roman bringt. Des weiteren ist es ausgerechnet Aleshas Begabung fürs Klavierspielen, das dazu geführt hat, daß besagte Lehrerin überhaupt auf sie aufmerksam wurde, und daß den Grund dafür bildet, daß sie ihren Weg findet.
    Das ist einfach ein schrecklich abgebrauchtes Motiv. Unüberlegt noch dazu. Warum engagiert sich in solchen Romanen nicht einmal jemand für eine angehende Friseurin, Buchhalterin, Ingenieurin oder Feuerwehrfrau? Muß es immer, immer Kunst sein? Sind nur die Jugendlichen, die dem kleinbürgerlichen Bildungsideal entsprechen es wert? Auch hier lassen alte kolonialistische Denkweisen grüßen. Man legt solche Traditionen eben nur schwer ab, vor allem, wenn man es gut meint.
    Was Courtney auf jeden Fall tut, ihre Website und ihre anderen Romane zeigen ihr soziales Engagement deutlich.


    Insgesamt ein äußerst spannender Roman aus dem zeitgenössischen London in Bezirken, die nicht vorzeigbar sind, mit sehr überzeugenden, sehr lebensecht gestalteten Figuren.
    Leider nicht ins Deutsche übersetzt.


    Auf dieses Buch gestoßen bin ich hier im Forum durch diesen Thread.


    Sehr guter Tip, danke!

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Schwieriger ist der Teil der Geschichte, der Aleshas ‚Rettung‘ gewidmet ist. Das ist etwas konservativ-sentimental geraten. Ungeschickterweise ist die Lehrerin, die Alesha unterstützt, eine Weiße, was den dummen Beigeschmack kolonialistisch-paternalistischer Beziehungen in den Roman bringt. Des weiteren ist es ausgerechnet Aleshas Begabung fürs Klavierspielen, das dazu geführt hat, daß besagte Lehrerin überhaupt auf sie aufmerksam wurde, und daß den Grund dafür bildet, daß sie ihren Weg findet.
    Das ist einfach ein schrecklich abgebrauchtes Motiv. Unüberlegt noch dazu. Warum engagiert sich in solchen Romanen nicht einmal jemand für eine angehende Friseurin, Buchhalterin, Ingenieurin oder Feuerwehrfrau? Muß es immer, immer Kunst sein? Sind nur die Jugendlichen, die dem kleinbürgerlichen Bildungsideal entsprechen es wert? Auch hier lassen alte kolonialistische Denkweisen grüßen. Man legt solche Traditionen eben nur schwer ab, vor allem, wenn man es gut meint.


    Schön, dass es Dir auch gefallen hat. :-)


    Den Teil mit der Lehrerin und Aleshas musikalischer Begabung fand ich weniger unpassend. Vielleicht weil es so gut zu Aleshas sonstigem Leben gepasst hat - endlich kann sie etwas besonders gut, aber leider nichts, das ihr direkt helfen würde. Außerdem war der Kontakt über eine wohlmeinende Lehrerin eher zufällig zu konstruieren als zu einer Buchhalterin, Feuerwehrfrau usw. Wobei das sicherlich eine interessante Konstellation gewesen wäre.
    Dass es ausgerechnet die Klavierlehrerin ist, bietet hier noch zusätzliche Möglichkeiten, Aleshas Leben aus dem Blickwinkel einer Person zu betrachten, die ganz anders aufgewachsen ist und die auch nicht direkt Aleshas Vertrauen genießt. :gruebel


    Schade, dass es bisher nicht auf Deutsch erschienen ist, wobei ich es nicht übersetzen wollen würde.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Ja, war ein schöner Fund hier. Ich suche doch immer nach den etwas anderen Büchern.


    Das Buch zu übersetzen, stelle ich mir auch als äußest schwierig vor. Man müßte vielleicht mit Kiezdeutsch arbeiten. :gruebel
    Manche Ausdrücke waren im Englischen aber einfach umwerfend. Nach einigen Seiten war es auch nicht mehr so schwer zu lesen.
    Es zu hören - Du hattest es ja als Hörbuch -, ist eventuell aber noch besser. Alesha und die anderen im Ohr. Das kommt einer sicher noch realistischer vor.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus