OT: The Innocents 1972
Die Engländerin Margery Sharp (1905 – 1991) ist eine vergessene Autorin. Heutzutage ist sie nicht einmal mehr als die Schöpferin der Kinderbuchserie ‚The Rescuers‘, dem Mäusepaar Bernhard und Bianca, bekannt. Außer Kinderbüchern, Theaterstücken und Erzählungen hat sie zwischen 1930 und 1977 sechsundzwanzig Romane geschrieben. Es sind scharf beobachtete Porträts der besseren bürgerlichen Gesellschaft, oft mit Heldinnen, die recht ungewöhnlich handeln, hin und wieder exzentrisch, und dadurch Turbulenzen auslösen. Angelegt als klassische Gesellschaftskomödien gewinnen sie unter dem sezierenden Blick der Autorin aber immer eine durchaus ernste Dimension. Hinter so mancher Schrulligkeit einer Figur verbirgt sich eine gute Portion Melancholie, hin und wieder sogar Tragik.
Frühling im Herbst behandelt ein ernstes Thema, die Unfähigkeit einer Mutter, ein behindertes Kind zu akzeptieren, mit der für die Autorin typischen leicht humoristischen Art, hinter der sich langsam die Wolken eines echten Dramas zusammenballen.
Die Geschichte beginnt im Sommer 1939 in einer sehr kleinen Kleinstadt in East Anglia. Die Icherzählerin, eine mit spitzer Feder gezeichnete spitzzüngige ‚alte Jungfer‘ – natürlich die Tochter des ehemaligen Pfarrers, natürlich in einem Cottage mit Garten wohnend – wird von einer um Jahre jüngeren, weitläufigen Verwandten, die in den USA lebt, gebeten, für einige Wochen deren kleine Tochter aufzunehmen, da die Eltern den Kontinent besuchen wollen. Sie stimmt zu, es scheint keine große Aufgabe zu sein, eine Dreijährige zu hüten. Doch die kleine Antoinette ist ein besonderes Kind ist. Sie ist in ihrer Entwicklung stark zurückgeblieben. Unsere Icherzäherin kommt mit der Situation aber gut zurecht.
Aus den geplanten vier Wochen werden dann allerdings sechs Jahre, weil der zweite Weltkrieg ausbricht und die Eltern Antoinettes gleich in die USA zurückkehren.
Das Leben mit dem schwierigen Kind in East Anglia wird mit viel Humor dargestellt, die Erkenntnisse, etwa, daß ein neues Lieblingswort Antoinettes, Maden, genug Ähnlichkeit mit dem Wort Amen hat, daß man es ihr durchgehen lassen kann, wenn sie es am Ende eines Gebets sagt, zeigt ebensoviel Einsichtsvermögen wie die große Liebe, die die Erzählerin für das Kind entwickelt. Auch die Menschen in der kleinen Stadt akzeptieren Antoinette. Ihr Verhalten ist exzentrisch, wie das Wetter East Anglias, und man hat gelernt, damit zu leben. Die wilden Wetteränderungen und Antoinettes Verhalten beschreibt die Erzählerin gleichermaßen enthusiastisch wie genau.
Dann aber ist der Krieg vorbei, Antoinettes Mutter Cecilia, inzwischen verwitwet, kommt nach England. Sie möchte ihre Tochter zu sich holen. Schnell wird klar, daß sie alles andere als eine geeignete Betreuerin ist. Trotzdem hält sie an ihrem Vorhaben fest. Der Icherzählerin wird immer klarer, daß sie nicht dulden wird, daß Antoinette unglücklich wird.
The Innocents lautet der Originaltitel und er erfaßt besser als der zahme deutsche, daß es hier um Unschuld und Schuld geht. In aller Harmlosigkeit und Unschuld handeln die Figuren schrecklich. Das gilt für Haupt – wie für Nebenfiguren. Egoismus, Kleinlichkeit, alltägliche Grausamkeiten, die man hinnimmt, wie das ständig wechselnde Wetter. Das überraschende ist, daß die Autorin mit vollendeter Liebenswürdigkeit davon erzählt, wohlerzogen, mit sanftem Humor. Die Haken, die in ihren Worten stecken, spürt man erst, wenn man sie schon geschluckt hat.
Die Icherzählerin bliebt namenlos, ihre Stimme ist aber von Anfang an so eindringlich, daß man gar nicht auf die Idee kommt, daß etwas fehlen könnte. Aber nicht nur sie zeigt, daß diese braven, wohlmeinenden Menschen allesamt einen skrupellosen Zug haben. Wehe, wenn man sie auf dem falschen Fuß erwischt.
Das kleine Buch, es hat ca. 190 Seiten, gibt es nur noch antiquarisch, gleich, ob auf deutsch oder englisch, aber es lohnt sich allemal, auch wenn die Sprache inzwischen gemütlich angestaubt ist.