Tokio, besetzte Stadt - David Peace

  • Tokio 1948. Die besetzte Stadt ist ein düsterer Ort, die Häuser zerstört, die Bewohner gedemütigt, die Gesellschaft verroht. Doch die Stadt berappelt sich langsam wieder, auch wenn das Leben der Menschen geprägt ist von der Niederlage und die Besatzung durch die Amerikaner eine täglich neue Schmach ist.
    An einem Nachmittag im Januar betritt kurz nach Feierabend ein Mann eine Bank und gibt vor, die gesamte Belegschaft gegen die Ruhr impfen zu müssen, die angeblich im Viertel grassiert. Eine Armbinde und eine Visitenkarte weisen ihn als Mitarbeiter der Gesundheitsbehörde aus, so dass die Bankangestellten arglos bleiben und die bittere Medizin schlucken.
    Kurze Zeit später sind zwölf von ihnen tot, vier ringen noch mit dem Tod und der vorgebliche Doktor mit einem Teil des Geldes verschwunden. Einziger Hinweis sind die Beschreibungen der Überlebenden und die Visitenkarte.
    Die führt die Polizei schließlich zu einem Aquarellmaler ohne Alibi, der sich für das Verbrechen schließlich auch verantworten muss. Doch damit beginnt erst der eigentliche Kriminalfall, denn entscheidende Fragen bleiben ungeklärt, ein noch viel gewaltigerer Massenmord zeichnet sich bald ab.


    Klammer des Romans ist der „Schriftsteller“, offenbar Peace' Alter Ego selbst, der im modernen Tokio, „in einer Stadt aus Glas und Beton“, versucht, die Ereignisse von damals zu ergründen und in einem Roman zu verarbeiten. Er ringt mit diesem noch ungeschriebenen Buch, es widersetzt sich, die Wahrheit widersetzt sich, und so besucht er, gemäß eines buddhistischen Brauches, ein Medium in einem „okkulten Turm“. Zwölf Kerzen brennen dort, für jeden Toten eine, und jede Kerze lockt einen Geist herbei, längst Verstorbene, die mit den Ereignissen damals auf verschiedene Weise verbunden waren. Nacheinander erzählen sie ihre Geschichte, Fragmente nur, die aber zusammen, wenn nicht Licht, so doch einen Schimmer auf die Verbrechen werfen.
    All diese Geister betrachten das Verbrechen aus unterschiedlicher Perspektive. Ein Opfer kommt zu Wort, Polizisten, Zeugen, Mafiosi. Einige der Geister enthüllen eine weitere Spur, zu einem Verbrechen weit größeren Ausmaßes: der japanischen Besatzung Chinas während des Zweiten Weltkriegs im Allgemeinen und den geheimen Menschenversuchen in der Mandschurei im Besonderen.


    „Tokio besetzte Stadt“ hat wenig mit einem herkömmlichen Kriminalroman gemein. Wer's war ist eher nebensächlich, es geht nicht darum, die Polizei bei der Verbrecherjagd zu begleiten, bis sie schließlich auf den letzten Seiten den wahren Täter überführt. Vielmehr zeigt Peace die Komplexität eines Verbrechens, was es über die Gesellschaft sagt, in der es stattfindet und auch, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Und die japanische Gesellschaft 1948 ist traumatisiert:


    Krieg ist der Abgrund unter all unserer Haut, der Abgrund in all unseren Schädeln. Und wenn wir erst einmal in diesen Abgrund geschaut haben, wie wir es getan haben, wenn wir in diese Leere gestarrt haben, dann können wir nicht mehr wegschauen, denn der Abgrund starrt zurück, lässt unsere Herzen schwarz und unsere Haare grau werden. Und mit unseren schwarzen Herzen und grauen Haaren sind wir keine Menschen mehr, wir sind nur noch Krieg, Mord, Tod.


    Auch formal ist dieser Roman etwas Besonderes. Denn auch wenn nach und nach die Zusammenhänge zutage treten, fehlt doch ein klassischer Spannungsbogen. Konsequent sind auch die unterschiedlichen Stimmen der Geister. Der eine schildert in Briefen an seine Frau das Geschehen, die Sicht des Inspektors erfahren wir aus seinem Notizbuch. Immer nehmen die Stimmen auch Bezug auf Tokio, die besetzte Stadt, die fremde Stadt, die okkulte Stadt. Insofern ist dieser Roman vielmehr ein Großstadtroman als ein Krimi, der sich durchaus mit Döblins Berlin Alexanderplatz messen kann.


    „Tokio besetzte Stadt“ hat mich ziemlich gefordert und zwar auf allen Ebenen. Die Stimmung ist von der ersten bis zur letzten Zeile finster, hier ist kein Platz für auch nur ein Fünkchen Humor.
    Der Handlungsstrang über die japanischen Kriegsverbrechen in China und der Umgang der amerikanischen Besatzungsmacht damit, ist zwar höchst lehrreich, gleichzeitig aber auch verstörend und furchterregend. Vieles wird im Buch zwar nur angedeutet, aber natürlich habe ich mich nach der Lektüre mit dem Thema beschäftigt. Wer einen weiteren Beweis dafür braucht, wozu Menschen fähig sind, kann ja mal „Ishii Shiro“ und „Einheit 731“ googeln.


    Aber auch die Sprache hat mir einiges abverlangt. Stellenweise ist der Text so verdichtet, dass kaum noch von Prosa gesprochen werden kann. Der Bericht des psychisch labilen Inspektors etwa, der unvermittelt zwischen privaten und beruflichen Problemen wechselt und von kurzen inneren Monologen unterbrochen wird, fordert volle Konzentration. Oft ist sogar die Typografie dem Inhalt angepasst, oft fragte ich mich „was will mir der Autor damit sagen? Meist glaube ich, das herausgefunden zu haben


    Ich muss aber gestehen, dass ich vieles in diesem Buch auch nicht verstanden habe, besonders, wenn mystische Elemente ins Spiel kamen, dass ich so manches nachschlagen musste und ich manchmal ein wenig wütend wurde, dass David Peace mir derart viel zumutet. Nichtsdestotrotz war es ein beeindruckendes Erlebnis, „Tokio besetzte Stadt“ zu lesen.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)