Herr Hübner und die sibirische Nachtigall – Susanne Schädlich

  • Über das Buch (der Verlagsseite über das Buch entnommen):
    Erschütternd und tief bewegend - eindringlich und fesselnd erzählt: Zwei außergewöhnliche Biographien, zwei Menschen, die trotz jahrelanger Haft in den Zeiten des kalten Krieges ihren Mut und ihre Lebenskraft nicht verloren.
    Dresden 1948. Ein Gefängnis der Sowjetischen Militäradministration, ein Mann und eine Frau. Ihre Sprache - ein Klopfzeichen durch die Zellenwand: Dietrich Hübner, 21 Jahre alt, seit Kriegsende Mitglied der Liberaldemokratischen Partei, und Mara Jakisch, 43 Jahre alt, Operettensängerin und Filmschauspielerin. Er hat sich geschworen, für Demokratie und Freiheit zu kämpfen. Ein gefährliches Engagement. Längst hat sich die SED mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht formiert und verfolgt ihre politischen Gegner. Mara Jakischs Leben sind der Gesang und die Schauspielerei. Es zieht sie wieder auf die Bretter der großen Bühnen.
    Dann die Anschuldigungen: Spionage für die westlichen Besatzungsmächte. Beide werden zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Dietrich Hübner kommt nach Bautzen, dann nach Brandenburg-Görden, Mara Jakisch in den Gulag nach Sibirien. Der Kampf um die eigene Würde beginnt, gestärkt von der Hoffnung auf andere Zeiten.


    Über die Autorin:
    Susanne Schädlich wurde 1965 in Jena geboren, sie ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Lebt mittlerweile nach einem elfjährigen Aufenthalt in den USA in Berlin.



    Meine Meinung:
    Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, insgesamt 235 Seiten. Romantext bis Seite 227, es schließen sich eine Danksagung, Glossar und Quellen an.


    „Roman“. Das steht da, ganz lapidar, neben dem Titel auf dem Schutzumschlag, unter dem Titel im Buch. Man muss es wohl glauben. Vielleicht könnte man sagen: Susanne Schädlich erzählt zwei reale Leben nach und das mit großer Konsequenz und ebenso großem Einfühlungsvermögen. Verdichtet, reduziert auf Wesentliches kommt es mir vor. Es ist das Leben zweier Menschen, die doch nur das wollten, was alle wollen, nämlich ein eigenständiges Leben, gestaltet nach eigenen Ideen und Vorstellungen, und die genau dies nicht durften. Aber das, was ihnen angetan wurde, reduzierte ihr Wollen und Wünschen auf schieres Überleben, reduzierte es auch auf das Erinnern dessen, was man hatte und was war. Wie viel Hoffnung blieb ihnen? Wenig mehr als die Aussicht auf einen Atemzug im Freien, in der Freiheit, wenig mehr als die auf ein Lachen. Vielleicht auf ein wenig Solidarität.


    Mehr als die oben stehende Inhaltsangabe mag ich nicht verraten über das Buch. Obwohl man das natürlich machen könnte. Diese Leben nacherzählen, das heißt eigentlich: Nacherzählen das, was Susanne Schädlich „nach“erzählt von dem, was Dietrich Hübner ihr erzählte und andere ihr über Mara Jakisch. Man kann erzählen von den Festnahmen, den ersten Nächten in Gefangenschaft und der Angst, die nie ganz wich, von Solidarität und Verrat. Man kann auch erzählen von dem Moment, als Gefängnistür und -tor sich öffneten, als die Fahrt von Sibirien nach Deutschland Wirklichkeit wurde. Von der Einsamkeit könnte man erzählen, hier wie dort, vom Ankommen in einer Wirklichkeit, die die ihre nicht mehr war und in der sie sich doch zurechtfinden mussten. Aber muss, wer zu viel verrät, nicht fürchten, die Neugierde auf das Buch zu verringern oder gar auszulöschen?


    Man könnte auch diesen einen Satz zitieren, der Hirn und Herz gleichermaßen traf: „Wir haben ein deutsches Schicksal. Es wird nicht geredet.“ (Seite 190) – womit nicht mehr und nicht weniger als das zweite große Unrecht nach dem, das sie in Gefängnis und Lager brachte, in wenigen Worten charakterisiert ist. Man war in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 50er Jahre (Mara Jakisch betreffend) bzw. Mitte der 60er Jahre (Dietrich Hübner betreffend) nicht unbedingt erpicht auf die Aufdeckung und das Aufarbeiten derartiger Schicksale; wirschaftliche Beziehungen, Aufschwung, materielles Fortkommen und erst recht die große Politik waren in jenen Zeiten wichtiger, aber war es je anders? Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und ihre Angehörigen haben es bitter erfahren müssen, heute könnten wir andere Begriffe verwenden.


    In Teilen hat mich das vorgestellte Buch an Horst Bieneks „Workuta“ erinnert, was ich nicht als etwas Ehrenrühriges verstanden wissen möchte, sondern es zeigt ja nur, wie einerseits einzigartig jede Lager- und Gefängniserfahrung ist, wie sie andererseits aber auch exemplarisch ist für viele, denen dieser gleiche Weg auferlegt wurde.


    Susanne Schädlich hat mich schon mit den beiden anderen von mir gelesenen Büchern „Immer wieder Dezember“ und „Westwärts, so weit es nur geht“ beeindruckt, nicht zuletzt durch ihr sprachliches Vermögen und die Intensität ihrer Gestaltung. Ich empfinde es als ein eher leises, ganz dichtes Erzählen, sie ist nah bei ihrer Geschichte bzw. den Personen, und doch scheint sie mir nicht zulassen zu wollen, dass der Leser allzu dicht an das Geschehen gezogen wird; sie muss nicht alles erzählen, um Schrecken, die Erfahrung der Einsamkeit deutlich werden zu lassen, gleichzeitig weiß ich als Leserin aber jederzeit, dass mir das letzte Verständnis fehlen wird, fehlen muss, weil mir diese Erfahrung erspart blieb. Es ist eher ein sachliches, fast nüchternes Erzählen, das es mir einerseits leicht macht, einen Hauch von Distanz zu wahren, gleichzeitig aber mein Mitgefühl einfordert.


    Was ich neben dem zutiefst berührenden und erschütternden Schicksal der beiden Protagonisten dieses Romans empfunden habe: Der Schmerz über das Wissen, dass es immer wieder Menschen wie Mara Jakisch und Dietrich Hübner geben wird, denen Unrecht getan wird, von dem andere lieber nichts wissen wollen, und dass es immer Autoren wie Susanne Schädlich geben muss, die an solches erinnern.


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