Und du bist nicht zurückgekommen - Marceline Loridan-Ivens

  • Marceline Loridan-Ivens schreibt ihrem Vater 70 Jahre nach dessen Deportierung nach Auschwitz einen bewegenden Brief. Die damals 15-Jährige die, nur drei Kilometer von ihrem Vater entfernt in Birkenau untergebracht wurde, berichtet über die letzte, kurze Begegnung mit ihrem Vater, über einen Zettel, den er ihr zugesteckt und dessen Inhalt sie weitgehend vergessen hat. Dafür hat sie eine schlüssige Erklärung: "Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können" (S. 29).


    Marceline erzählt über das unmenschliche Leben in Birkenau, über Dinge, die dem Leser eine Gänsehaut über den Rücken laufen lassen. Sie musste Gruben ausheben, von denen sie annahm, dass darin ihre Verwandten verbrannt werden. Ihre Arbeit tat sie mechanisch, sie trug Kleidung von Verstorbenen und gab ihre Identität auf. In den Lagern gab es keine Frauen, keine Männer und keine Kinder, sondern nur "dreckiges Judenpack". Marceline funktionierte, zu mehr war man in dieser Situation nicht in der Lage.


    Nach der Befreiung fühlt sie sich von der Mutter unverstanden. Marceline wollte auf dem Boden schlafen, die Bequemlichkeit eines Bettes konnte sie nicht ertragen. Die Sehnsucht, sich mit dem Vater auszutauschen der gleiches erlebt hat, ist deutlich spürbar. Aber auch der Wunsch, mit ihm das Erlebte aufzuarbeiten. Bewegend berichtet die Autorin über das Leben nach der Befreiung und der Leser bekommt das Gefühl, sie habe sich bis heute nicht zurecht gefunden, zu tief sitzen die Wunden.
    Verwandte sterben, begehen teilweise Suicid- auch sie hatten Probleme, mit dem Leben klarzukommen und mir wird klar, dass diese schlimme Zeit das Leben vieler Menschen nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft verändert und beeinflusst hat. "Sie sind an den Lagern gestorben, ohne je dort gewesen zu sein" (S. 76).


    Die Autorin versucht, ihrem Leben Normalität zu geben. Noch immer ist die Sehnsucht nach dem Vater da, voller Bedauern sagt sie: "Ich habe so wenig Zeit gehabt, mir einen Vorrat von dir anzulegen" (S. 20).
    Mich hat diese Biografie sehr berührt und eine andere Sicht auf die Zeit eröffnet, die ich zum Glück nicht erleben musste. Und ich wünsche Marceline Loridan-Ivens, dass ihr das Schreiben dieses Buches ein klein wenig von der Last der Vergangenheit genommen hat.


    Ein unbedingt lesenswertes Buch!

  • Und du bist nicht zurückgekommen
    Marceline Loridan-Ivens
    ISBN: 3458176608
    Insel Verlag
    111 Seiten, 15 Euro


    Über die Autorin: Die 15-jährige Marceline Rozenberg, Tochter von 1919 aus Polen nach Frankreich eingewanderter Juden, wurde im Jahre 1943 gemeinsam mit ihrem Vater in der Vaucluse (Südfrankreich) verhaftet und am 13. April 1944 mit dem 71. Transport ins KZ Auschwitz deportiert, wo sie insgesamt 45 Angehörige verlieren sollte. Mit dem Anrücken der Roten Armee Anfang 1945 wurde sie zu einem Todesmarsch ins KZ Bergen-Belsen getrieben. Ihre Befreiung erlebte die 17-jährige im Mai 1945 im Ghetto Theresienstadt. Im Juli 1945 kehrte Marceline Rozenberg nach Frankreich zurück. Dort begann sie unter dem Namen Marceline Loridan ihre Zusammenarbeit (als Assistentin) mit diversen Dokumentarfilmregisseuren, darunter Jean Rouch und Joris Ivens. Letztgenannter sollte später ihr Ehemann werden. Sie ist Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Sie lebt in Paris. (Quelle: Wikipedia)


    Kurzbeschreibung: Marceline ist fünfzehn, als sie zusammen mit ihrem Vater ins Lager kommt. Sie nach Birkenau, er nach Auschwitz. Sie überlebt, er nicht. Siebzig Jahre später schreibt sie ihm einen Brief, den er niemals lesen wird.


    Meine Meinung: Marceline Lorindan-Ivens schreibt im hohen Alter einen Brief an ihren Vater, der das Lager nicht überlebt hat. Mit diesem Brief, den sie an ihn richtet, zieht sie eine persönliche Bilanz und versucht etwas zu verarbeiten, das sie ihr ganzes Leben nicht mehr losgelassen hat.
    Sie schildert die unmenschlichen Lebensumstände in Birkenau, das menschenverachtende System, dem sie hilflos ausgesetzt war und ihre Gedanken, die sie bei der Arbeit in der direkten Nähe der Gaskammern hatte.


    Beim Lesen dieses Briefes spürt man, wie sehr Marceline diese Zeit im Lager geprägt hat. Sie hat ihr Leben in ein Davor und in ein Danach aufgeteilt und sie wird niemals mehr unbeschwert sein können. Es ist nicht nur die Erinnerung an Grausamkeit, Kälte und den allgegenwärtigen Tod, die sie umtreibt; es ist ein Verlust, den sie in diesem Brief vor sich selbst und ihrem Vater versucht, zu rechtfertigen.


    Damals im Lager gelang es ihrem Vater, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen. Ein kleines Stückchen Papier mit seiner Handschrift, geschmuggelt in höchster Gefahr und man würde annehmen, dass ihr die Worte so wertvoll waren, dass sie sie auswendig gelernt hätte – doch sie vergisst, was auf diesem Zettel stand. Sie sucht ihr Leben lang nach den Worten dieser Botschaft, die ihr Gedächtnis so unwiderruflich ausgelöscht hat und nach einer Erklärung, die ihr die Absolution für dieses Vergessen erteilt. Sie hat eine Formulierung für sich gefunden, etwas, mit dem sie leben kann und doch merkt man beim Lesen, wie sehr dieses Vergessen auf ihr lastet.


    Sie berichtet ihrem Vater von ihrem Leben nach ihrer Rückkehr aus dem Lager und immer wieder hat sie das Gefühl, dass es nicht richtig war, dass sie überlebt hat, ist der Meinung, dass eigentlich er hätte zurückkehren müssen. Am Schluss stellt sie sich die Frage: „Jetzt da das Leben zu Ende geht, meinst du, dass wir gut daran taten, aus den Lagern zurückzukommen?“


    Man spürt beim Lesen, dass sie, wie so viele Überlebende, nicht ganz zurückgekehrt ist – dass sie das Lager ein ganzes Leben lang in sich getragen hat und begreift ansatzweise, dass das Geschenk des Überlebens eine lebenslange Last sein kann.


    Mein Fazit: Ein Zeitzeugenbericht, berührend, bedrückend und wichtig – ein Brief, der zwar nicht den Vater, doch aber uns Leser erreicht und den man so schnell nicht vergisst.