György Dragoman - Der Scheiterhaufen

  • Titel: Der Scheiterhaufen
    OT: Maglya
    Autor: György Dragoman
    Übersetzt aus dem Ungarischen von: Lacy Kornitzer
    Verlag: Suhrkamp
    Erschienen: Oktober 2015
    Seitenzahl: 494
    ISBN-10: 351842498X
    ISBN-13: 978-3518424988
    Preis: 24.95 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Rumänien nach dem Sturz des Diktators. Emma, eine dreizehnjährige Vollwaise, wächst im Internat auf. Ihre Eltern sollen bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein. Eines Tages erscheint eine Unbekannte, die sich als ihre Großmutter ausgibt. Widerstrebend folgt Emma ihr in eine fremde Stadt. In der Schule wird Emma nicht nur gehänselt, sondern auch bedroht, denn ihre Großmutter gilt als Spitzel und Geisteskranke. Tapfer erträgt sie die Peinigungen, zugleich aber wächst das Misstrauen gegen die alte Frau. Als sie sich über das Verbot, den Holzschuppen im Garten zu betreten, hinwegsetzt, macht sie eine verstörende Entdeckung.Die Geschichte, die nun beginnt, zieht Emma den Boden unter den Füßen weg: Stückweise kommt die Wahrheit über ihre Familie ans Licht - und über eine Gesellschaft, in der das gewaltsame Ende vieler ihrer Bürger nie verfolgt wurde.


    Der Autor:
    György Dragoman, 1973 in Marosvasarhely(Targu-Mures/Siebenbürgen) geboren, lebt seit 1988 in Budapest. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman. Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner.


    Meine Meinung:
    Ohne Frage – ein sehr intensives Buch. Die Intensität wird ganz sicher auch dadurch noch gesteigert, dass dieser Roman im Präsens geschrieben wurde. Dem Leser wird das Gefühl vermittelt, alles passiert gerade jetzt und nichts kommt irgendwie betulich aus der Konserve.
    Die handelnden Personen sind sehr klar gezeichnet, ihre Konturen stechen hervor und für Allgemeinplätze oder Überflüssiges findet sich bei ihnen kein Platz. Sehr geschickte vermischt der Autor Reales, Vergangenes und ansatzweise Surreales. Und diese Mischung macht aus diesem Roman ein echtes Leseerlebnis, einen literarischen Leckerbissen.
    Die FRANKFURTER ALLEGMEINE ZEITUNG verstieg sich gar zu dieser Beurteilung: „Große, intensive Literatur, aus dem zeithistorischen Mutterboden weit hinausgewachsen.“
    Das hätte man ganz sicher auch weniger elitär und verständlich ausdrücken können. Aber was wären die professionellen Literaturkritiker ohne ihre unverständliches Gebrabbel? Sie stünden dann tatsächlich auf einer Stufe mit dem „Normalleser“. Aber das jetzt nur am Rande.
    Dieser Roman ist durchzogen von einer leicht pessimistischen Distanziertheit, die deutlich macht, wie alte Seilschaften und ehemalige Pfründe nach vemeintlichen revolutionären Veränderungen ganz schnell wie wachsen- so als seien sie nie weg gewesen.
    Ein sehr lesenswerter Roman – 8 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das Buch fand ich grandios, ich muss unbedingt noch meine Rezi nachziehen. Hier hatte mich der Klappentext total aufgeregt, weil er irgendwie nur teils mit der Handlung zu tun hat:
    Dass das junge Mädchen Emma heißt, erfährt man ganz spät - ich dachte schon, es sei so wie bei "Rebecca", wo man ja den Namen der Ich-Erzählerin nie erfährt.
    Und sie kennt zwar ihre Großmutter nicht, es ist aber ganz eindeutig ihre Großmutter.
    ...es gibt ja später genug, was im Buch nur angedeutet wird bzw. wo man nicht weiß, ob es Traum/Wunsch ist oder Realität.

  • Die junge Ich-Erzählerin bleibt lange namenlos getreu eines Satzes im Buch, dass man die schmerzvollsten Geschichten nur so erzählen könne, dass der, der zuhört, das Gefühl hat, dass sie ihm selbst widerfahren. Das junge Mädchen muss mehrfach mit einer völlig veränderten Situation umgehen, erst sind die Eltern bei einem Autounfall gestorben, dann lebt sie im Internat, währenddessen endet das Ceauescu-Regime, dann erhält sie Besuch von ihrer Großmutter, von deren Existenz sie bislang nichts wusste und die sie mitnehmen will. Doch ihre Großmutter bringt auch etwas anderes mit in ihr Leben, sie erzählt von der Vergangenheit, gibt Mut für Gegenwart und Zukunft – und bei allem schleicht sich durch sie, mit ihr eine zweite Ebene ein, eine magische, phantasievolle, und die gesamte Familiengeschichte spannt sich auf.


    In anderen Rezensionen wird Dragomán daher verglichen mit Isabel Allende und „Das Geisterhaus“, die Richtung ist sicherlich nicht falsch, jedoch trifft sie nach meiner Meinung nur zum Teil: Beim Geisterhaus ist das Auftauchen der Verstorbenen für die handelnden Personen die Realität ebenso wie die durch Gedankenkraft verschobenen Gegenstände, bei „Der Scheiterhaufen“ erscheint der verstorbene Großvater nur beim Blinzeln, im dahingestreuten Mehl, oder etwas war vielleicht auch nur ein Traum – der Autor spielt geschickt mit der Grenzlinie zwischen Phantasie, bloßem Hoffen nach großen Verlusten und der Magie der Situation. Ebenso virtuos steigert er seine Beschreibung dabei, überfordert den Leser nicht – der Einstieg in den magischen Bereich beim Kaffeesatzlesen mag natürlich auch einfacher Aberglaube sein oder ein alter dörflicher Brauch. Er lässt seine Geschichte mal zügig, mal gemächlich voranschreiten und schafft es, Rückblenden vorzunehmen, ohne dass man den Zeitbezug verliert. Die jüngere Geschichte Rumäniens wird in einen noch viel weiteren Bezug gestellt, gut herausgearbeitet sind die Brüche in der Gesellschaft durch ein Nebeneinander von neuen Möglichkeiten und althergebrachten Vorstellungen, von Schuld und Schuldgefühl, von Rache und Gerechtigkeit.
    Der Roman ist dabei „Coming-of-age“ sowohl der jungen Protagonistin als auch der jungen rumänischen Demokratie, wobei beiden die wohl dafür unvermeidlichen harten Landungen auf dem Boden der Realität widerfahren. Dragomán schafft es, mit dem Ende seiner Geschichte vieles dabei in der Schwebe zu halten, viele offene Fragen aufzuwerfen, ohne dadurch unversöhnlich zu werden.


    Weiterführend:
    Ich hatte nach der Lektüre von Andrei Mihailescus „Guter Mann im Mittelfeld“ nach einem weiteren Roman gesucht, der mir das bis dahin unbekannte Rumänien näherbringen würde, mein Bild erweitern sollte – und habe mit diesem Buch für mich einen Glücksgriff getan, den ich fast in einem Zug gelesen habe.
    Dragomán verläßt sich hauptsächlich auf die Geschichte und die Kraft der Bilder, dabei mag dem Leser einiges an Hintergrundwissen zum Verständnis fehlen; so erinnern das Moralverständnis oder die schulischen Erziehungsmethoden einen deutschen Leser eher an das Deutschland der fünfziger oder sechziger Jahre. Auch erklären sich manche Befindlichkeiten der Personen im Roman nur aus den Besonderheiten des rumänischen Systems inklusive Personenkult und sehr rigider gesellschaftlicher Kontrolle. Wer hier tiefer gehen möchte, dem sei das erwähnte Buch von Mihailescu ans Herz gelegt. Beide Autoren nähern sich der Thematik auf verschiedene Art - während man dem Scheiterhaufen vorwerfen mag, zu beschreiben, was nicht jeder Leser gleichermaßen zu deuten vermag, wurde Mihailescu vorgeworfen, die Anforderung an zu viel Sachbuch im Roman erfüllen zu wollen. In dieser Weise ergänzen beide einander: Wer nach aktueller Literatur aus Rumänien sucht, merkt, dass diese stark in der Auseinandersetzung mit besonders der jüngsten Geschichte fußt, stärker, als man sich dies als Deutscher mit der Erfahrung zur DDR vorstellt. Wer nach aktueller rumänischer Literatur sucht, wird merken, wie sehr diese um die jüngere Geschichte kreist und sich an ihr reibt. Zu einem Verständnis UND zu tieferen Leseerlebnissen sollten beide genannten Werke beitragen.