Bernd Ohm: Wolfsstadt
ars vivendi Verlag 2015. 501 Seiten
ISBN-13: 978-3869135014. 22,90€
Verlagstext
München, 1948. Als Labyrinth der Gewalt hat die einstige »Hauptstadt der Bewegung«, die nun in Schutt und Asche liegt, den Kriminaler Fritz Lehmann fest in ihren Klauen. Dabei könnte eigentlich alles perfekt sein, denn seitdem Lehmann in den Vereinigten Staaten Englisch gelernt und Gefallen an Jazz und Demokratie gefunden hat, fühlt er sich wie ausgewechselt. Endlich muss er nicht mehr ständig daran denken, dass er 1942 als Mitglied der OrPo an einer Massenerschießung im ukrainischen Sarny beteiligt war, woraufhin er kollabierte, als »nicht ostfähig« heimgeschickt wurde - und einen Mantel des Schweigens über seine Vergangenheit legte. Doch als der Mord an der Gelegenheitsprostituierten Irina Stepaschkin die Löwengrube erschüttert, hat Lehmann ein Problem, denn die Ermittlungen führen ihn zu jüdischen Überlebenden des Holocaust. Obendrein bekommt er eine Vorladung der Alliierten, die nach deutschen Kriegsverbrechern fahnden. Ehe er sich's versieht, hat die Vergangenheit Lehmann wieder fest im Griff. Ein Mörder sucht einen Mörder, der Jäger wird zum Gejagten. Für Lehmann ist klar: Nichts ist in diesen Zeiten wichtiger als das Vergessen - und nichts so gefährlich ... Ein historischer Kriminalroman in der Tradition des Noir, der nicht nur souverän eine mitreißende Geschichte erzählt, sondern auch ein kulturelles Kaleidoskop Nachkriegsdeutschlands entwirft.
Der Autor
Bernd Ohm, geboren 1965 in Hoya an der Weser, studierte Anglistik, Hispanistik sowie Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Später arbeitete er als Musiker, Drehbuchautor, Übersetzer, Übersetzungslektor und Berater für Softwarelokalisierung. Nach Stationen in Augsburg, München und Berlin lebt er heute mit seiner Familie in der Nähe Bremens. Wolfsstadt ist sein Debütroman.
Inhalt
Fritz Lehmann ist der Sohn eines pommerschen Landarbeiters, für den ursprünglich vorgesehen war, auch in der Landwirtschaft zu arbeiten. Doch der Zweite Weltkrieg hat Lehmann zuerst zur Orpo, der nationalsozialistischen Organisationspolizei der deutschen Besatzer in Osteuropa verschlagen und nach seiner Gefangennahme durch die Amerikaner in Kriegsgefangenenlager mehrerer Länder. Lehmann ist um die 30, jetzt im Jahr 1948 perfekt umerzogen, „entnazifiziert" und er hat Erfahrungen als Verbindungsoffizier der amerikanischen Besatzer. Emsig lernt er für seine Laufbahnprüfung, um auf die nächste freie Stelle bei der Münchener Kripo übernommen zu werden. Gestört wird die Lernerei allein dadurch, dass Lebensmittel noch immer auf Marken verkauft werden, und Lehmann oft vor Hunger zusammenklappen würde – wenn er nicht einen schwunghaften Schwarzhandel mit beschlagnahmten Gegenständen aus der Asservatenkammer treiben würde. Geradezu klassisch für die Zeit, dass Lehmann ein Zimmer bei einer Vermieterin bewohnt, die in 7 ihrer 8 Zimmer Wohnungssuchende aufnehmen musste, die ihr das Wohnungsamt zuteilte. München ist kurz nach der Währungsreform ein Sammelbecken für Displaced Persons aus aller Herren Länder, die in Lagern auf ihre Auswanderung warten. Lehmann bewegt sich in diesem Milieu wir ein Fisch im Wasser, wechselt problemlos zwischen seinem pommerschen Heimatdialekt, Bairisch, Österreichisch oder Englisch.
Als eine Frauenleiche ohne Kopf und auch sonst unvollständig gefunden wird, scheint Lehmann der ideale Ermittler zu sein, weil er sich unter amerikanischen Armeeangehörigen bewegt, als wäre er einer von ihnen. Unter den verschiedenen Nationalitäten, ehemaligen Nazis, Frauen, die sich in der Not prostituieren, und jeder Menge Schlitzohren scheint die Suche nach einem Täter bisher die berühmte Nadel im Heuhaufen zu sein. Lehmann unterschätzt bisher nur, dass ihn nicht nur seine Alpträume, sondern auch seine Zeit bei der OrPo im Osten hier in München schneller einholen werden, als er sich vorstellen kann. Lehmann hat weder damit gerechnet, welch ausgezeichnete Ortskenntnisse amerikanische Offiziere haben können, die aus Deutschland vor den Nationalsozialisten emigrierten, noch über welch exakte Berichte sie verfügen, über Ereignisse, bei denen es angeblich keine Überlebenden gab.
Lehmanns persönliches Schicksal nimmt innerhalb der Rahmenhandlung des Kriminalfalls erheblichen Raum ein, so dass man sich fragen kann, ob Wolfsstadt nicht eher ein Roman über das Jahr 1948 in der amerikanisch besetzten Zone ist als ein historischer Krimi. Lehmann repräsentiert in seiner Wendigkeit genau die tatkräftigen Leute, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht lange mit Luftschlössern aufhielten, sondern anpackten und taten, was getan werden musste. Für einen so plietschen Kerl fand ich es wenig überzeugend, dass Lehmann ganz bewusst wiederholt für sich selbst zwischen den Mundarten übersetzte. Glaubwürdiger hätte ich gefunden, wenn er unbewusst einfach nur gewechselt hätte und den bayrischen Kollegen mit seiner preußischen Schlagfertigkeit den Nerv getötet hätte. An anderer Stelle winkt Bernd Ohm bei einer persönlichen Eigenschaft seines Protagonisten so oft mit dem Zaunpfahl, dass ich mich fragte: hat er es jetzt endlich, es war doch schon beim ersten Hinweis klar, wohin die Sache steuert.
Fazit
Wolfssstadt ist ein atmosphärisch großartiger Roman über das München der Nachkriegszeit, der konkrete Gräueltaten der Nationalsozialisten geschickt mit einem realen Sachverhalt in der Stadt und in dieser Zeit verknüpft. Eine Kürzung hätte der Glaubwürdigkeit der Hauptfigur und der Spannungskurve gutgetan.
8 von 10 Punkten