Shtum – Jem Lester

  • Ungekürzte Lesung
    9:20 Stunden
    Sprecher
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    Zum Inhalt
    Ben Jewell selbst und seine Ehe stehen kurz vor dem Zerbrechen.


    Sein 11-jähriger Sohn Jonah ist autistisch, spricht weder mit seinen Eltern noch mit Lehrern und Ärzten und lebt fast völlig in sich selbst zurückgezogen. Als Ben und Jonah gezwungenermaßen zu Bens Vater Georg ziehen müssen, wohnen drei Generationen Jewells unter einem Dach – einer, der nicht sprechen kann und zwei, die nicht miteinander sprechen wollen.


    Ben kämpft mit Behörden, Sozialarbeitern, Ärzten, seiner Familie und seinen eigenen Dämonen. Dabei lernt er eine Menge über sich selbst und andere, nicht weniges davon unangenehme Erkenntnisse.


    Jonah, der in seiner eigenen Welt lebt, zwingt die Erwachsenen dazu, miteinander zu reden.


    Zum Autor
    Jem Lester arbeitet für neun Jahre als Journalist und erlebte den Fall der Berliner Mauer selbst mit, unterrichtete für neun Jahre Englisch und Medienkunde in weiterführenden Schulen. Er hat zwei Kinder, eines davon autistisch. Aktuell lebt er in London mit seiner Partnerin und ihren beiden Kindern.


    Zum Sprecher
    David Thorpe ist ein britischer Schauspieler und Sprecher von über 100 Hörbüchern.


    Meine Meinung
    Der Titel „Shtum” ließ mich auf ein Buch mit jüdischem Bezug schließen, die Inhaltsangabe hingegen klang ganz anders und machte vorsichtig neugierig. (Vorsichtig, weil mir Jean-Louis Fourniers autobiographischer Roman über das Leben mit seinen zwei schwerbehinderten Söhnen in sehr schlechter Erinnerung ist. Wo fahren wir hin, Papa? - Jean-Louis Fournier)


    Jonah bereitet seinen Eltern nicht wenige Sorgen. Interaktive Kommunikation mit ihm ist in der Regel nicht möglich, er ist inkontinent, kann in Stresssituationen sich selbst und Andere verletzen und in der Förderschule hat er in sechs Jahren kaum Fortschritte gemacht, außer körperlichem Wachstum und viel Kraft. Jetzt steht der Wechsel auf eine weiterführende Schule an und im Schulbezirk wird an allen Ecken und Enden gespart. Da sind 200.000 Pfund pro Jahr für das von den Eltern ersehnte spezielle Internat nicht vorgesehen.


    Anders als Rain Man verfügt Jonah auch nicht über die Inselbegabung, die viele Menschen im Umfeld seiner Eltern automatisch erwarten. Sind nicht alle Autisten in einem bestimmten Bereich hochbegabt? Jonah nicht und diese Erwartungshaltung frustriert seine Eltern noch zusätzlich.


    Aus einem Grund, den ich hier nicht verraten möchte, wird entschieden, dass Ben und Jonah erstmal zu Bens Vater Georg ziehen sollen. Dies ist eine nicht weniger explosive Mischung, auch wenn die Ressentiments zwischen Georg und Ben anderer Natur sind als zwischen Ben und seiner Frau Emma, eine erfolgreiche Anwältin. Emma wünscht sich sehnlichst ein zweites Kind, Ben hat Angst vor einem weiteren schwierigen Kind, gibt sich selbst die Schuld an Jonahs Problemen.


    Ben selbst ist nie wirklich erwachsen geworden, verlor seine Arbeit, weil er zu viel trank und ist jetzt offiziell in der Catering Firma seines Vaters angestellt, ohne sich dort in irgendeiner Form zu engagieren. Dementsprechend ist das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, Georg macht kein Hehl daraus, dass er nichts von Ben hält. Für Georg ist das tägliche Zusammenleben mit Jonah neu und er tritt seinem geliebten Enkel unbefangener gegenüber als dessen Eltern, erzählt ihm z.B. liebevoll und unermüdlich sehr persönliche Gute-Nacht-Geschichten.


    Auf sehr einfühlsame und intensive Weise fesselt Ben Lester seine Leser, nimmt sie mit in das Leben eines Alleinerziehenden eines heranwachsenden schwer autistischen Sohnes. Offiziell wird das Buch als Roman verkauft, ist jedoch deutlich autobiographisch. Bens Ernüchterung, wenn die Kinder der Freunde Entwicklungssprünge machen, Jonah jedoch „an der grünen Ampel stehenbleibt“, keiner der zu Beginn der Grundschule zugesagten Fortschritte sechs Jahre später eingetroffen ist und Jonah in sich selbst versunken schweigt, während seine Familie sich nichts sehnlicher wünscht, als ein paar Worte von ihm, um sein Innenleben verstehen zu können.


    Die Liebe, die Ben für seinen außergewöhnlichen Sohn empfindet, ist stets spürbar. Jonah liebt Schneekugeln, herumfliegende Federn und nackt im Garten herumzulaufen, teilt seine Freude jedoch kaum.


    Die pseudo-verständnisvollen Mitarbeiter mancher Behörden lassen die Leser bzw. Zuhörer fast genauso verzweifeln wie Ben, auf der einen Seite Vorschriften und vermutlich teilweise Überlastung, auf der anderen die sehr persönliche und intensive Sorge um die Zukunft des eigenen Kindes.


    Der Titel „Shtum“ ist perfekt gewählt, Jonah kann nicht sprechen, sein Vater und Großvater wollen nicht miteinander sprechen und haben viele Geheimnisse voreinander. Jetzt endlich werden sie gezwungen, sich einander anzunähern und auch ein anderes Verhältnis zu Jonah zu entwickeln.


    David Thorpe ist für Ben der ideale Sprecher, vermittelt die Stimmung unterschiedlichsten Situationen und versteht es geschickt, jeder der Figuren eine eigene Stimme zu geben.


    Fazit
    Ein sicherlich weitgehend autobiographischer Roman über das Leben als Vater eines schwer autistischen Sohnes, der weder mit seiner Umwelt kommuniziert, deutliche Fortschritte in seiner Entwicklung macht, noch über die von vielen erwartete besondere Inselbegabung verfügt. Ben Lester zeigt meiner Meinung nach sehr einfühlsam und realistisch die täglichen kleineren und großen Probleme, die Gedanken und Gefühle der Erwachsenen und versucht auch, die (vermuteten) Gefühle des 12-jährigen Jonah darzustellen.


    Alle Hauptfiguren sind lebendig und überzeugend aufgebaut, keine von ihnen auf den ersten Blick ein Sympathieträger, doch alle mit meist nachvollziehbaren Motiven.


    „Shtum“ ist ein besonderes Buch, von dem ich hoffe, dass es auch bald auf Deutsch erscheint und seinen realen Hauptfiguren das Allerbeste wünsche.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")