Geister - Nathan Hill

  • Gebundene Ausgabe: 864 Seiten
    Verlag: Piper (4. Oktober 2016)
    ISBN-13: 978-3492057370
    Originaltitel: The Nix
    Preis Gebundene Ausgabe: Euro 25.00
    Preis Kindle E-Book: Euro 19.99


    Autor


    Nathan Hill ist 38 und lebt in Chicago und St. Paul, Minnesota, wo er an der University of St Thomas Englische Literatur unterrichtet. Seine Erzählungen erschienen in zahlreichen Magazinen und Zeitungen, sie waren nominiert für den Pushcart und den Barthelme Preis. »Geister« ist sein erster Roman und wird derzeit in über zwanzig Sprachen übersetzt.


    Kurzbeschreibung / Klappentext


    Ein Anruf der Anwaltskanzlei Rogers & Rogers verändert schlagartig das Leben des Literaturprofessors Samuel Anderson . Er, der als kleines Kind von seiner Mutter verlassen wurde, soll nun für sie bürgen: Nach ihrem tätlichen Angriff auf einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten verlangt man von ihm, die Integrität einer Frau zu bezeugen, die er seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen hat. Ein Gedanke, der ihm zunächst völlig abwegig erscheint. Doch Samuel will auch endlich begreifen, was damals wirklich geschehen ist. - Ein allumfassender, mitreißender Roman über Liebe, Unabhängigkeit, Verrat und die lebenslange Hoffnung auf Erlösung, ein Familienroman und zugleich eine pointierte Gesellschaftsgeschichte von den Chicagoer Aufständen 1968 bis zu Occupy Wall Street.


    Meine Meinung


    Es ist Oktober, die Tage werden kürzer, die Temperatur sinkt und man verbringt wieder mehr Zeit zu Hause und geniesst das Lesen im warmen Licht der Stehleuchte im gemütlichen heimischen Sessel. Vielleicht ist das der unbewusste Grund, weshalb dieses 860 Seiten dicke Buch bei mir eingezogen ist. Das graue Cover mit den hervorgehobenen Punkten die den Tastsinn ansprechen erinnert mich an Nebel oder tiefhängende Wolken die sich um die Hochhäuser schmiegen und die Sicht nur punktuell auf die gewaltigen Bauten gewährt. Die ausschweifend erzählte Familiengeschichte hat mich fast auf den Tag genau die vergangenen zwei Wochen beschäftigt und viele, sehr viele Lesestunden beansprucht.


    Der umfangreiche Inhalt ist schwer in wenigen Worten zusammenzufassen. Es ist die Geschichte von Samuel der in jungen Jahren von seiner Mutter verlassen wird und sich als unbedeutender Literaturprofessor an einer kleinen Fakultät durchs Leben schlägt und nebenbei an einem Roman schreibt, dessen finanziellen Vorschuss vom Verlag er bereits ausgegeben hat. Da kommt es ihm gelegen, dass seine Mutter den Kandidaten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf mit Kieselsteinen bewirft und ihn am Auge verletzt. Der Verlag wittert eine heisse Story und Samuel muss, um rasch ein Buch zu dieser Tagesaktualität zu schreiben, nach vielen Jahren mit seiner Mutter Kontakt aufnehmen. In langen und szenenreichen Rückblenden werden viele kleine Episoden aus dem Leben erzählt und es ist gleichzeitig, quasi so nebenbei, ein Streifzug durch die neuere amerikanische Geschichte.


    Normalerweise sind Familienromane nicht mein bevorzugtes Lesefutter aber dieses Werk hat das gewisse Etwas, das mich an die Geschichten gefesselt hat aber in einer kurzen Buchvorstellung so schwer zu beschreiben ist. Zuerst ist mir der leicht verständliche Sprachstil aufgefallen. Nichts gestelztes bzw. hochgeistiges für studierte Literaten sondern ein eingängiges erzählen für das normale Lesevolk. Der Author Nathan Hill geht aber recht ins Detail was plastische Bilder vor dem vielzitierten inneren Auge erschafft aber hie und da etwas überladen wirkt. Seine Stärke ist das Gestalten der Haupt- und Nebenfiguren. Er versteht es ihre spleenigen Gedanken und ihr komisches Handeln so zu schildern, als sei es zwangsläufig der einzig richtige Weg. Die Dialoge die er den Protagonisten auf die Zunge legt sind teilweise recht pointiert und sorgen dafür, das man die Geschichte mag und an ihr kleben bleibt. In Anbetracht der stattlichen Seitenzahl bleibt die Anzahl der Figuren überraschenderweise überschaubar und damit für den Leser gedanklich problemlos handelbar. Durch die vielen zeitlichen Sprünge mit den Rückblenden kommt es aber vor, dass einige Personen für ein paar hundert Seiten von der Bildfläche verschwinden um dann wieder in Erscheinung zu treten.


    Der relativ junge Autor webt und verwebt Handlungsfäden, er malt Szenen und füllt die Seiten mit Worten so dass er über achthundert Seiten braucht um das zu erzählen was er unbedingt erzählen will. Das ihm der Verlag und sein Lektorat so viele Seiten zugesteht zeigt dass er Schreiben und einen Sog bzw. eine Bindung der Leser an die Geschichte erzeugen kann. Das bei so vielen Seiten eine Kürzung und das streichen einiger Szenen möglich wäre versteht sich von selbst. Die Frage ist nur, auf was man hätte verzichten können? Fragt man zwanzig Leser wird man zwanzig verschieden Antworten kriegen. Vielleicht auch ein Grund, dass der Verlag der Einfachheit halber entschieden hat einfach alle im Roman drin zu belassen.


    Mit diesem Debüt zeigt Nathan Hill seine literarischen Qualitäten und es bleibt zu hoffen, dass er sein schriftstellerisches Talent nutzt und weitere Romane schreiben wird. Er hat zweifellos das Rüstzeug um dem lukrativen Markt der amerikanischen zeitgenössischen Romanen seinen Stempel aufzudrücken. Ein gutes Buch und ein empfehlenswerter Roman der mindestens eine 8 Eulenpunkte Wertung verdient hat. Die Bestwertung von 9 oder gar 10 Eulenpunkten bewahre ich für Hills nächsten Roman auf der hoffentlich noch ein Quentchen besser sein wird.

  • Das bei so vielen Seiten eine Kürzung und das streichen einiger Szenen möglich wäre versteht sich von selbst.


    Da widerspreche ich aber schon mal lautstark... Erstens kommt es bei einem Buch nicht darauf an, wie dünn oder dick es ist, sondern auf den Inhalt.

    Zweitens ist mir das Buch auf keiner Seite zu lang vorgekommen, ich habe jeden Satz als wichtig und richtig empfunden.

    Mit der Phrase "das versteht sich von selbst" kann ich überhaupt nichts anfangen. Beim Lesen und Interpretieren versteht sich kaum einmal etwas "von selbst" - es braucht immer das Mitdenken der Leserschaft. Und in der Folge gibt es meist ein breit gefächertes Spektrum an Meinungen.

    Ja, ein Kürzen wäre sicher möglich gewesen, hätte das Werk aber auf unverantwortliche Weise verstümmelt.


    Meine Meinung zu diesem Buch in einem Wort: großartig.

    Und ein bisschen ausführlicher: Nathan Hill versteht es wunderbar, Atmosphäre zu schaffen und Charaktere in Szene zu setzen. Die Dialoge wirken authentisch, die Charaktere sind ausgefeilt und agieren rollenkonform und doch auch immer wieder überraschend. Hill hat eindrucksvolle Figuren geschaffen. Ich empfand niemanden als nur sympathisch, andererseits gab es auch Ekelpakete, die mir wegen ihrer Bosheit, gepaart mit Ignoranz, beinahe Beklemmungen verursachten.

    Und auch das macht den Roman für mich so intensiv. Zeitweise könnte man fast verzweifeln, wenn man liest, welche Einstellung manche Personen vertreten - man fühlt sich ins "richtige" Leben versetzt mit den alltäglichen Verletzungen, Egomanien und Gemeinheiten.


    Nathan Hill hat meiner Meinung nach auch hervorragend und akribisch recherchiert und einen Debutroman geschaffen, der mich sehr beeindruckt hat. Manchmal konnte ich es gar nicht glauben, dass das ein Erstlingsroman sein soll - so routiniert ist der Schreibstil, so spannend der Handlungsbogen.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde