Jess Kidd: Der Freund der Toten

  • Jess Kidd: Der Freund der Toten
    DuMont Buchverlag 2017. 384 Seiten
    ISBN-13: 978-3832198367. 20€
    Originaltitel: Himself
    Übersetzer: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann


    Verlagstext
    Der charmante Gelegenheitsdieb und Hippie Mahony glaubte immer, seine Mutter habe ihn aus Desinteresse 1950 in einem Waisenhaus in Dublin abgegeben. Sechsundzwanzig Jahre später erhält er einen Brief, der ein ganz anderes, ein brutales Licht auf die Geschichte seiner Mutter wirft. Mahony reist daraufhin in seinen Geburtsort, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. Sein geradezu unheimlich vertrautes Gesicht beunruhigt die Bewohner von Anfang an. Mahony schürt Aufregung bei den Frauen, Neugierde bei den Männern und Misstrauen bei den Frommen. Bei der Aufklärung des mysteriösen Verschwindens seiner Mutter hilft ihm die alte Mrs Cauley, eine ehemalige Schauspielerin. Furchtlos, wie sie ist, macht die Alte nichts lieber, als in den Heimlichkeiten und Wunden anderer herumzustochern. Sie ist fest davon überzeugt, dass Mahonys Mutter ermordet wurde. Das ungleiche Paar heckt einen raffinierten Plan aus, um die Dorfbewohner zum Reden zu bringen. Auch wenn einige alles daran setzen, dass Mahony die Wahrheit nicht herausfindet, trifft er in dem Ort auf die eine oder andere exzentrische Person, die ihm hilft. Dass es sich dabei manchmal auch um einen Toten handelt, scheint Mahony nicht weiter zu stören …


    Die Autorin
    Jess Kidd, 1973 in London geboren, hat ihre Kindheit teilweise in einem Dorf an der irischen Westküste verbracht. Sie hat Literatur an der St. Mary’s University in Twickenham studiert. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Roman. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in London.


    Inhalt
    1950 wird in Mulderrig im irischen County Mayo langsam und quälend eine junge Frau ermordet. Sie ist selbst fast noch ein Kind und hinterlässt ein Baby. 25 Jahre später taucht im Dorf ein verblüffend gut aussehender junger Mann auf. Tadhg, dem Barmann, läuft es bei seinem Anblick kalt den Rücken hinunter; denn der hippiehafte Mahoney blickt ihn mit den Augen des Mädchens an, das damals in Mulderrig verscharrt wurde. Mahoney wurde im Waisenhaus in Dublin stets gesagt, seine Mutter sei eine Hafen-Hure gewesen. Doch ein in ausdrucksvoller Schrift verfasster Brief verrät dem jungen Mann aus Dublin seinen Namen und weist ihm den Weg ins Heimatdorf seiner Mutter. Gemeinsam mit der alternden Mrs. Cauley nimmt es Mahoney mit den Lebenslügen einer Dorfgemeinschaft auf, in der vermutlich jeder etwas zu verbergen hat. Ein geplantes Theaterstück dient den beiden als Deckmantel ihrer Befragung. Als die Toten von Mulderrig mit Francis zu sprechen beginnen, zerstreut das letzte Zweifel, ob er wirklich Orlas Sohn sein kann. Orla hat ihre paranormale Gabe offensichtlich ihrem Sohn vererbt. Die Vorfahren der heutigen Dorfbewohner quellen ihm buchstäblich aus den Wänden entgegen, treiben ihre Reifen mit Stöckchen durch das Dorf – und lassen sich mit einigem Geschick als Zeugen befragen. Bücher wuseln durch Szenen, Socken in der Schublade werden beängstigend lebendig und der ganze Ort benimmt sich, als wäre er eine Person. In Mulderrig sind Gegenstände belebt und wehrhaft.


    Fazit
    Die aus dem Buchcover wuchernden Ranken und Farne symbolisieren die Üppigkeit, in der einem aus dem Buch Klatsch, Aberglaube und paranormale Fähigkeiten entgegen ranken. Zwar gibt es im Dschungel Mulderrys keine Affen und keine Pfeilgiftfrösche, die Fuchsien auf dem Cover vermitteln jedoch das typische Irland-Feeling, zwischen üppigen Fuchsienhecken auf Landstraßen einem Ziel entgegenzukurven. Um sich mit Mahoneys Spurensuche zu vergnügen, sollten Leser an die Existenz von Elfen und Trollen glauben (jedenfalls in Irland) und an Wälder als Bollwerke, hinter denen sich paranormale Kräfte verbergen. Zwischen lebenden und verstorbenen Figuren zu unterscheiden, ist mir nicht immer geglückt – aber genau das ist der Spaß beim Lesen dieses ungewöhnlichen Erstlingsromans. Wer sensibel auf Grausamkeiten gegenüber Tieren reagiert, sollte lieber Abstand halten.


    9 von 10 Punkten

  • „Sieh dich vor. Es gibt in diesem Dorf keine vertrauenswürdige Seele. Jeder von ihnen hat mindestens zwei Gesichter.“ (S. 75)


    Zusammenfassung. In „Der Freund der Toten“ entdecken wir gemeinsam mit dem Hippie Mahony das grausige Schicksal seiner Mutter, das von den Bewohnern ihres Heimatdorfes sorgfältig verborgen gehalten wird. Denn so richtig schön ist vieles nicht, das in diesem Zuge ans Tageslicht zu kommen droht, und Schweigen ist diesem kleinen irischen Dorf schon immer das Mittel der Wahl gewesen.
    So bleiben Mahony auf seiner Mission nicht viele Verbündete, wenn man von den vielen Toten absieht, die seinen Weg säumen und immer wieder (mal mehr und mal weniger) hilfreich sind.


    Erster Satz. Sein erster Schlag: Sie gab keinen Laut von sich, riss nur die dunklen Augen weit auf.


    Cover. Das Cover gefällt mir ziemlich gut, zum einen hat es mich optisch direkt angesprochen, zum anderen illustriert es auch so wunderschön die märchenhafte Sprache, mit der dieser Roman immer wieder aufwartet. Es passt in meinen Augen im Besonderen ganz wunderbar zu meiner unten zitierten Lieblingsstelle.


    Inhalt. Vor allem anderen ist „Der Freund der Toten“ ein wirklich spannender Roman. Schon während sich die Handlung langsam entrollt, gegen Ende dann jedoch ganz besonders, mochte ich das Buch kaum zur Seite legen.
    Ein Knackpunkt, der es mir erschwert, das Buch uneingeschränkt jedem zu empfehlen, ist das exzessive Auftauchen Toter, mit denen Mahony spricht und die teils Hinweise liefern, teils wirre Informationen mitzuteilen scheinen und die der Handlung einen leicht abgedrehten Touch verleihen. Mir selbst haben diese Elemente unwahrscheinlich gut gefallen, sie machen einen nicht unerheblichen Teil meiner eigenen Begeisterung aus, doch gleichzeitig weiß ich durch diesen Faktor, der die Geschichte in einigen Teilen deutlich unheimlicher machte als ich es erwartet hatte, einfach nicht, wem ich das Buch nahe legen möchte. Schwiegermama, die spannende Krimis und Thriller liest? Meiner eigenen Mama, die tiefgehende Romane vorzieht? Dem Freund, der an sich gar nicht gerne liest und der sein Herz allenfalls an Fantasy-Titel hängt? Dieses Buch macht es mir nicht leicht.


    Personen. Obwohl sehr viele Charaktere vorkommen und relevant sind, gelingt es der Autorin in meinen Augen ganz wunderbar, uns (beinahe) jeden näher zu bringen. Sie wechselt zwischen Perspektiven hin und her und bietet uns als Lesern auf diese Weise einen ziemlich umfassenden Einblick in die Geschichte, Hintergründe, Gedanken und Gefühle der meisten Figuren.
    Ein besonderes Faible hatte ich für die vorkommenden Toten, die zum Teil auf wirklich anrührende Weise versucht haben, am Geschehen teil zu haben, und die eine gewisse Komik mit in jede Situation gebracht haben.



    Lieblingsstellen. „Doch während der Mann sich wusch, hatte der Wald das Kind verborgen. [...] So kam es, dass der Mann, als er sich umschaute, das Kind nicht mehr finden konnte, so gründlich er auch suchte.“ (S. 9)
    „Ich hab ein Jo-Jo gehabt, aber ich hab’s verloren. [...] Ich glaube, der Wald hat’s gestohlen. Der stiehlt alles, was hübsch ist.“ (S. 31)


    Fazit. Ich persönlich bin ein wenig verliebt, in die Sprache, in das Märchenhafte und das Besondere. Ich weiß bloß nicht, wem es ähnlich ergehen könnte und wem die abgedrehten Aspekte nur befremdlich erscheinen würden. Mein Tipp: Wenn man reinliest und alles ein paar Seiten auf sich wirken lässt, dann weiß man (glaube ich) ziemlich schnell, ob dieses Buch einen ansprechen kann oder ob man eher die Finger davon lassen sollte.

  • Mulderrig, 1976. Wenn die Vergangenheit einen nicht loslässt. Mahony will den Tod seiner Mutter aufklären. Er reist zu dem Ort, weil er den Hinweis in Form eines Briefes bekommen hat, dort endlich Antworten zu finden. Zusammen mit Mrs Cauley, die ihm allzu gern behilflich ist, will er die Wahrheit aufdecken. Die ehemalige Schauspielerin ist ganz in ihrem Element. Wie gut, dass gerade das alljährliche Theaterstück aufgeführt wird. So kann er nebenbei seine Ermittlungen aufnehmen. Außerdem hat er eine Gabe. Mahony kann Geister sehen. Das ist nicht immer angenehm für ihn, kann aber durchaus hilfreich sein.
    Wird er das Geheimnis um seine Mutter lüften können?


    Das Buch spielt hauptsächlich im Jahr 1976, aber auch 26 Jahre früher, 1950. Im Prolog erfährt man schon, dass Mahonys Mutter ermordet wurde, und dass der Wald das Baby Schutz bot, damit es nicht auch dem Mörder zum Opfer fiel. Die Suche nach dem Mörder ist nun das erklärte Ziel. Dabei wirken eine Menge Figuren mit, die man aber gut auseinanderhalten kann. Die Toten wollen helfen, die Lebenden schweigen lieber.


    Was mir gut gefallen hat, war der Schreibstil und die poetische Sprache. Ich mag sowieso Geschichten, die etwas skurril und andersartig sind. Und die Toten nehmen in dem Buch viel Platz ein.


    Das Einzige, was ich zu viel fand, waren die Beschreibungen der Tierquälereien. Ich wusste, dass auch dieses Thema darin vorkommt, dennoch empfand ich es doch zu heftig.


    Insgesamt ein schöner Schreibstil, eine etwas andere Geschichte.


    7 Punkte.

  • Irland, 1976. Mulderrig, ein kleines irisches verschlafenes Dorf, wird wachgerüttelt, als der charmante Hippie Mahony unerwartet auftaucht und Fragen über seine Mutter und ihr Verschwinden vor über 20 Jahren stellt. Fragen, die für viele Dorfbewohner unbeantwortet bleiben sollen.
    Die Beschreibung könnte auch zu einem Krimi mit ernsten Ermittlungen passen, doch dieses Buch ist ganz anders: es ist eine skurrile und schräge Geschichte mit viel Humor, interessanten und teilweise exzentrischen Charakteren und paranormalen Elementen.
    Das Buch lässt sich in einem Rutsch lesen: man wird von dem poetischen Schreibstil der Autorin, den schrägen Ereignissen und Dialogen schnell in den Bann gezogen.
    Wer bei diesem Buch einen Krimi mit viel Spannung, überraschenden Wendungen und unerwarteter Auflösung erwartet, wird enttäuscht sein: die Geschichte ist sehr einfach und die Auflösung ist schon ziemlich früh hervorsehbar; wer aber ein unterhaltsames Buch mit tollen Dialogen und skurrilen Charakteren sucht, wird mit diesem Buch einen Volltreffer landen.


    7 Punkte.

  • Der Freund der Toten - Jess Kidd


    Mein Eindruck:
    „Der Freund der Toten“ erinnert an Loney von Andrew Michael Hurley, mit einem Hauch von John Burnside. Tatsächlich gibt es ähnliche Ansätze. Doch wo bei Loney die Bedrohung versteckt und im Geheimen lauert, marschiert bei Jess Kidd das Grauen der Welt offen vor den Augen des passiven Protagonisten vorbei, denn er kann die Toten sehen.


    Der Großteil der Handlung ist 1976 angesiedelt, zwischendurch auch immer wieder Ende der vierziger Jahre bzw. 1950.
    In das irische Dorf Mudderig kommt ein Fremder, Mahony, der auf der Suche seiner Herkunft ist. Er ist im Waisenhaus aufgewachsen, aber seine Mutter stammte aus Mudderig. Was ist mit ihr vor 26 Jahren geschehen? Mahonys Anwesenheit im Dorf löst eine gewisse Unruhe aus. Mit der alten Schauspielerin Mrs. Cauley versteht sich Mahony aber gut und findet in ihr eine Verbündete auf den Spuren des Geheimnus der Vergangenheit.


    Lange Zeit habe ich den Roman nicht besonders gemocht. Sprachlich ist Jess Kidd ambitioniert, aber teilweise zu bemüht und einige Stellen wirken konstruiert. Doch vielleicht kann sich die Autorin bei kommenden Büchern noch verbessern.
    Erst in der zweiten Hälfte packten mich doch einigen Passagen, da man sich der Dichte der Atmosphäre kaum entziehen kann. Nicht nur die Natur ist lebendig. Da bricht sogar das Bücherregal von selbst los und schlägt eine Angreiferin auf Mrs Cauley in die Flucht.
    Irritierend wirken hingegen die Beschreibungen gnadenloser Gewalt, die immer wieder mal in den Text einbrechen und wohl dem Geschmack moderner Thrillerleser geschuldet ist.

  • Mahony dachte sein ganzes Leben, seine Mutter hätte ihn aus egoistischen Gründen vor einem Heim abgelegt. Mit 26 erhält er jedoch eine Nachricht, die alles verändert. Also macht er sich auf den Weg ins irische Mulderrig, seinem Geburtsort. Dort sorgt er für ordentlich Wirbel, denn er verfügt, ganz wie seine Mutter, über eine ganz besondere Ausstrahlung – und über eine Fähigkeit, die nicht jedem gefällt. Die alte Mrs. Cauley, die sowieso gern provoziert, nimmt sich Mahony und der Recherche liebend gern an. Und so sind bald alle Einwohner auf irgendeine Art an Mahony interessiert.


    Das Buch liest sich sehr interessant. Die Sätze sind teils fast schon Poesie. Immer wieder finden sich Passagen, die urkomisch sind, obwohl sie im Grunde einfach nur Tatsachen schildern. Aber auch irrwitzige Stellen finden sich zuhauf. Das ganze Buch ist im Präsens gehalten und schon allein diese Tatsache ist oft ein Grund, warum ein Buch etwas schwerer verdaulich ist. Aber Jess Kidd (was für ein Name! Schon der ist besonders und auffällig, wie sollte dann ihr Buch schnöde und Durchschnitt sein?) hat mich von Anfang bis Ende mit ihrer Sprache in ihren Bann gezogen. Passt dieser Stil zu Irland? Ein wenig schon. Passt er zur Story? Auf alle Fälle! Dennoch … insgesamt verliert sich die Autorin in eine unplausible und arg konfuse Story. Da mir die einzelnen Situationen aber sehr gut gefielen, macht das eine Bewertung ein wenig schwierig.


    Die Stimmungen wurden wunderschön eingefangen. Auch die Charaktere gefallen mir ausnehmend gut – sowohl die Sympathieträger, als auch die Kotzbrocken. Die einzelnen Aktionen, die sich einige einfallen lassen, sind unterhaltsam und sprühen fast schon märchenhaften Witz aus. Eine Mischung aus wahrem Leben und irischer Mystik eben. Dennoch … meine Erwartungen wurden leider nicht erfüllt.


    Schon der Titel hat mich ein wenig auf die falsche Spur gebracht. „Der Freund der Toten“ hat bei mir die Assoziation zweier Personen hervorgerufen: eine Tote und deren Freund. Gemeint ist hier jedoch, dass Mahony der Freund quasi aller Toten ist, mit ihnen kommuniziert und sie wahrnimmt. Der Originaltitel „Himself“ ist nicht wirklich besser getroffen. Nun denn!


    Die Szenen mit den Toten sind wunderbar. Davon hätte ich so viel mehr lesen können, da steckt viel Potenzial drin. Nur leider … kommen diese Szenen dann doch zu kurz. Und die Frage bleibt: warum sieht Mahony gewisse Tote nicht? Sind die gar nicht tot? Oder hat es einen anderen Grund? Und warum helfen ihm die Toten nicht viel mehr? Zumindest für mich hat sich das im Laufe der Story nicht erklärt.


    Für mich bleiben am Ende auch einfach zu viele Fragen offen. Mag sein, dass ich die Antworten schlicht einfach nicht erkannt habe, denn hin und wieder ist die Erzählweise doch ein wenig orakelig und verlangt vom Leser doch so einige Gehirnakrobatik. Das ist an sich nicht schlecht, dennoch ist es ein weiterer Tropfen im Fass der Punktabzüge. Warum heißt unser Held eigentlich Mahony? Die Antwort darauf muss mir entgangen sein.


    Obwohl ich das Buch sehr gerne gelesen habe und an keiner Stelle gelangweilt (an einigen aber arg geschockt) war, bin ich am Ende etwas enttäuscht. Es fehlt etwas. Es ist nicht befriedigend. Dennoch will ich mehr von dieser Autorin lesen. Und so bleiben am Ende fünf Punkte für „Der Freund der Toten“.